Titelthema: papst prinzip

Das "Papst-Prinzip"

Viele berichten es: Trotz unfassbar vielen Begegnungen Tag für Tag gelingt es Papst Franziskus, in wenigen Augenblicken eine persönliche Verbindung aufzubauen. Carsten Lehmann hat es erlebt 

Dieser Mittwoch in Rom ist ein besonderer Tag. Zu viert haben wir uns auf den Weg gemacht, zwei Frauen und zwei Männer. Einer von uns ist schwerkrank. Er weiß, dass seine verbleibende Lebenszeit sehr begrenzt ist. Wochen, Monate, ein Jahr?

 Nach der Generalaudienz sollen wir Papst Franziskus treffen und mit uns gut 200 Menschen mehr. Einen kurzen Moment bin ich enttäuscht, so viele Menschen, damit habe ich nicht gerechnet. Es dauert, Franziskus nimmt sich viel Zeit, um zu den Menschen auf dem Petersplatz zu gehen, dann kommt er zu uns.

„Gerade bin ich für den Papst der wichtigste Mensch.“

Aus der Ferne kann ich sein weißes Scheitelkäppchen sehen. Was soll ich zu ihm sagen? Haben wir überhaupt Zeit, miteinander zu sprechen? Und dann steht er vor mir, reicht mir beide Hände, kommt ganz nahe und lächelt mich an. Wir wechseln ein paar Worte, tauschen Segenswünsche aus und Blicke. Nur eine kurze Frist, dann ist es vorbei und langsam werde ich von den Sicherheitsleuten nach unten auf den Petersplatz geführt.

Mein Freund ist wie ich tief bewegt von dieser kurzen Begegnung. „Obwohl es nur eine Minute war“, sagt er: „diese kurze Zeit war er ganz präsent. Er war nicht mehr bei der Frau vor mir und noch nicht bei dem Mann nach mir. Ich hatte das Gefühl, gerade bin ich für den Papst der wichtigste Mensch auf diesem Platz.“ Er sprach aus, was auch ich gefühlt hatte.

Die einen sagen vielleicht: „Siehst du, so austauschbar bist du in diesem Theater.“ Möglicherweise. Ich bin mir jedoch sicher, es ist eine heilsame Kunst, für einen Moment ganz bei seinem Gegenüber zu sein.

Die Begegnung mit dem Papst hat keinen neuen Menschen aus mir gemacht. Doch ich versuche anders auf Menschen zuzugehen: Womöglich sehe ich einen Patienten oder eine Patientin nur ein einziges Mal, aber genau diese Zeit haben wir jetzt und sie gehört meinem Gegenüber. Das gelingt mir mal besser und auch mal schlechter – aber als Leitfaden ist mir das „Papst-Prinzip“ wichtig geworden. Gute Begegnungen und Gespräche hängen nicht unbedingt von der Quantität ab, sondern ebenso davon, ob ich diesen Kontakt wirklich möchte oder ob es eine berufliche Pflichtübung ist.

Text: Carsten Lehmann

Carsten Lehmann ist Diakon. Er arbeitet unter anderem als Krankenhausseelsorger im Marienhospital Osnabrück
  

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