Nachgedacht

Die Heilung der blutflüssigen Frau

Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn. Darunter war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt. Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden. Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. Und sofort versiegte die Quelle des Blutes und sie spürte in ihrem Leib, dass sie von ihrem Leiden geheilt war. Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt? Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt? Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte. Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden!    Mk 5,24b–34

Jesus-Begegnung

Im Evangelium nach Markus begegnen wir Jesus in zentralen Geschichten von Heilungen der Kranken, Aussätzigen, Lahmen und Besessenen. Es sind weder Lehren noch Weisungen.

Jesus ist auf dem Weg zur zwölfjährigen Tochter des Synagogenvorstehers Jairus, die er heilen soll. Unterwegs begegnet er in einer Menschenmenge der blutflüssigen Frau. Sie leidet seit zwölf Jahren an einer chronischen Blutung. Dadurch ist sie vom öffentlichen Leben und vom Kultus ausgeschlossen und isoliert.

Die Zahl zwölf meint symbolisch die Ganzheit des Menschen und seine Beziehungsfähigkeit. Die Frau möchte Beziehungen eingehen, gibt dafür alles und bleibt doch isoliert. Sie hat vergeblich ihren ganzen Besitz bei Ärzten ausgegeben. Sie verliert weiterhin ihr Blut und damit ihre Lebendigkeit.

In diesem Zustand begegnet sie Jesus. Dieser hat keine Berührungsangst, lässt sich berühren von ihrem Elend. Er geht sofort eine enge Beziehung mit ihr ein und spricht sie mit „Tochter“ an.

Durch die Berührung mit Jesu Gewand ereignet sich die Heilung. Wie das geschieht, bleibt offen. Fest steht nur, dass sich die Heilung nicht erzwingen lässt. Heilung ereignet sich, als sie im Vertrauen nimmt, spürt, begegnet.

Durch die Berührung wird eine geheimnisvolle Kraft wirksam. Jesus erscheint als Träger einer Kraft, die allein durch die Begegnung augenblicklich heilsam ist. Er lenkt sie nicht. Die Kraft ist seine Beziehungskraft, die auch die Beziehungsfähigkeit der Frau wieder erweckt. Es ist die „dynamis“ als Spiritualität im Sinne der Herstellung einer Verbindung zu sich selbst, zu Gott und zu anderen.

Selbst-Begegnung

Schlussendlich begegnen wir in dieser Perikope uns bzw. einer der drängendsten Fragen des Glaubens: Wie sollen wir umgehen mit dem Leiden und dem Tod? Die Antwort  in der Perikope negiert beides nicht, sondern ermutigt zu einem annehmenden Umgang, da Gott uns nicht allein mit unserem Leiden lässt.

Das Leid ist da, aber es erscheint in einem anderen Licht, wenn wir Gottes Nähe spüren. Das Leiden und auch der Tod müssen nicht Angst und Schrecken auslösen, da wir in Gott bleiben. Diese gläubige Annahme des Lebens mit all seinen Facetten lässt sich nicht erzwingen. Sie ist ein Geschenk. Dieses kann erbeten, erfahren und schließlich erzählt werden – auf dass wir Gott begegnen.

Wir begegnen ihm

Einem, der in einem entlegenen Winkel der Welt wirkt und einen schändlichen Tod auf einer Müllkippe stirbt. Einem Ketzer, der gegen die bestehende Ordnung, den Tempel und die Besatzungsmacht ist.

Wir begegnen einem, der alles verändert. Der mutig seine religiöse Tradition kritisiert und sich gegen alle richtet, die andere verurteilen. Er kann unser Leben verändern, wenn wir es wagen, ihm zu begegnen.

Wir begegnen ihr

Einer, die seit über zwölf Jahren in Isolation lebt. In einer von Krankheit bestimmten Welt. Sie hofft auf eine Begegnung mit einem Menschen, der nicht meint, sie zu kennen. Sie will erfahren, wer sie sein kann.

Wir begegnen einer Frau, deren Vertrauen in einen Unbekannten so stark ist, dass eine kurze Begegnung reicht, um heil zu werden. Ihr Glaube lässt sie es wagen, in die Menge zu gehen und den Unbekannten zu berühren.

Beide begegnen sich

Sie kennt ihn nicht, hat keine feste Meinung, keine vorgefertigte Idee von ihm.

So entdeckt er seine verbindende Kraft, sein Beziehungs-Leben, seine Spiritualität.

Er kennt sie nicht, hat keine feste Meinung, keine vorgefertigte Idee von ihr.

So entdeckt sie ihre verbindende Kraft, ihr Beziehungsleben, ihre Spiritualität.

Text: Johanna Dransmann

Illustration: Patrick Schoden