
Foto: Thomas Osterfeld
Titelthema: eremitin
Gott begegnen und Menschen stützen
In der Zurückgezogenheit sucht sie die Begegnung mit Gott. Und ist doch geistliche Stütze für Gäste und Ratsuchende. Zu Besuch bei der Eremitin Maria Anna Leenen
…
Strahlende Sonne, blauer Sommerhimmel über hohen Bäumen und wild wachsenden Büschen – die Hofstelle irgendwo im Osnabrücker Land wirkt wie Klein-Bullerbü. „Guten Morgen“, Maria Anna Leenen steht auf der Ziegenwiese. Jeans, blaue Bluse, kurze weiße Haare, kräftiger Händedruck, wache Augen. Dass das Leben hier aber wenig mit Kinderbuchromantik zu tun hat, wird mit dem Eintreten in den sanierungsbedürftigen Kotten deutlich. Doch diese Frau lebt auch nicht der Idylle wegen hier. Ihr geht es um Einkehr, um einen Glaubensweg. „Auch in Ihnen ist Jesus anwesend.“ Wer sagt einem das einfach so beim Kaffeetrinken ins Gesicht?
Bis zu dieser Einsicht hat Maria Anna Leenen viele Grenzen ausgelotet. Ein pralles Leben geführt. Etwa beim Tieftauchen auf mehr als 40 Meter, als sich ihr Bein an einem Seil verfing und ihr Tauchlehrer sie – schon bewusstlos – an die Oberfläche holte. Sie spricht ruhig, fast lakonisch. Dabei lässt sich erahnen, wie sie Ratsuchenden begegnet, sich selbst öffnet und den Gegenüber sich öffnen lässt.
Das große Geld rief in Venezuela
Über ihr früheres Leben sagt sie: „Ich war halt ein bunter Vogel.“ Ein Vogel, der zwischen Wiesen und Feldern seine Heimat gefunden hat. Mit kleiner Küche, Bad ohne Spiegel und Feuchtigkeit in den Wänden. Sie gehört keiner Ordensgemeinschaft an und ist Bistumseremitin. Doch Geld vom Bistum bekommt sie nicht. Ein Förderverein hat die Hofstelle gekauft und mit Muskelkraft und über Spenden bewohnbar gemacht. Über Erlöse aus ihrer Arbeit als Autorin, die Gestaltung von Kerzen sowie durch Vorträge finanziert sie ihr äußerlich karges Leben.

Danach sah es 1985 nicht aus. Da ging es raus aus Osnabrück nach Venezuela auf eine Wasserbüffelranch: „Wir hatten 400 Tiere und wollten schnell viel Geld verdienen.“ Am Rand des Dschungels mit Schlangen, kleinen Krokodilen und riesigen Spinnen. Beim Versuch, ein Wildpferd zu reiten, verletzte sie sich schwer. Das Farmprojekt scheiterte und eine Liebe zerbrach. Conny, wie sie damals noch hieß, wollte lesen. Spanisch verstand sie nicht genug, englische Bücher gab es nicht. „Da drückte mir jemand einen Band über Marienerscheinungen in die Hand. Mir, der evangelischen Frau, die schon das Vaterunser fast vergessen hatte.“
Und dann die vier Sekunden, die Worte, die alles änderten: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Milliarden Menschen haben diese Jesus-Worte gelesen und wenig ist passiert. Nicht so bei Conny: Auf links gedreht sei sie gewesen. „Ich wusste ganz plötzlich: Jesus ist da. Er ruft dich und will eine Antwort von dir.“ Eine Gewissheit – bis heute.
Zurück in Deutschland lotete sie das Leben neu aus. 29 Jahre war sie. Mit der nüchternen evangelischen Sonntagsfrömmigkeit ihrer Kindheit konnte sie nichts anfangen. „In Venezuela hatte ich katholische Messen als Glaubensfeste kennengelernt. Mit einer Viertelstunde Friedensgruß mit Umarmungen und Küsschen.“ Ihre Suche führte sie ins Klarissenkloster Münster. Aus Conny wurde Maria Anna von der Demut Gottes. Nicht wegen einer zuckersüßen Marienfrömmigkeit, sondern weil Maria Mutter und Anna Oma Jesu waren. Sie versuchte es mit Ehrgeiz, übte die Beichte und wollte Defizite wegbeten. Doch das führte nicht zum Ziel.
Körperliche Grenzerfahrungen waren geistliche Bereicherung
Der Kaffeerest ist kalt geworden. Draußen zieht die Mittagshitze auf, während drinnen die Kühle durchs Gemäuer kriecht. Schwer vorstellbar, wie hier ein Leben im Winter aussieht. „Ich habe mich daran gewöhnt“, sagt Maria Anna Leenen schulterzuckend. Mich zieht es nach draußen, Wärme tanken und nachdenken. In Mörtelkübeln wachsen Zucchini, Salat, Zwiebeln und Möhren. Die Vögel scheinen nur träge in den Bäumen zu dösen. So viel Stille. Wie hält man die aus?
Maria Anna Leenen verließ das Kloster. Sie hatte das eremitische Leben als Berufung erkannt und fand eine erste Unterkunft. „Dagegen ist das hier Luxus.“ Der Winterkälte nahezu schutzlos ausgeliefert, ohne Geld für ausreichend Lebensmittel. Heiligabend gab es eine in der Pfanne erwärmte Tiefkühlpizza für 1,99 DM. Körperlich sei es bis an die Grenzen des Erträglichen gegangen. „Aber geistlich war es eine Bereicherung. Mir blieb nur das Vertrauen auf Gott.“ Nachts in absoluter Stille und Dunkelheit kam die Angst. Nicht verheilte Wunden brachen auf. „Einmal stand ich an die Wand gelehnt auf meinem Bett und vor mir tat sich ein Loch auf. Ich wusste: ‚Wenn ich da reinfalle, bin ich verloren.‘ Stundenlang konnte ich mich keinen Zentimeter bewegen und nicht zum Lichtschalter greifen.“ Nein, leicht ist dieser Glaubensweg nicht.
„Irgendwann steht jeder allein vor Gott. Das sollten wir bedenken“
Es ist Zeit fürs Gebet. Durch den Flur mit Fotos von Bau- und Entrümpelungsarbeiten geht es über nackten Beton in die kleine Kapelle. Der einzige Raum, der bewussten Gestaltungswillen zeigt, mit warmen Wandfarben und dezentem Schmuck. Das Stundengebet mit Psalmen und Bibellesungen strukturiert Maria Anna Leenens Tagesablauf. Dazu die Ruminatio, das halblaute Sprechen einer Schriftstelle, bei dem durch stetige Wiederholung der Wortsinn weniger bedacht als körperlich verinnerlicht wird. „Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes des Vaters“, lautet der Vers aus dem Philipperbrief, den sich Maria Anna Leenen ausgesucht hat und der an ihr Berufungserlebnis anknüpft. „Bei der Ruminatio ist es wie bei den Ziegen. Die käuen ihr Futter über Stunden wieder. Ich käue diesen Vers und schöpfe daraus Kraft.“

Die Ziegen – Symbol der Fruchtbarkeit, aber auch des Teufels – sind ihre täglichen Begleiter. Warum keine Schafe? „Die sind einfach blöd.“ Maria Anna Leenen spricht Klartext, auch über die Kirche. Beim Thema Kindesmissbrauch durch kirchliche Mitarbeiter wird sie zornig. In der Kapelle habe sie Gott angeschrieen, wie er so etwas zulassen könne. Außerdem: „Viele Menschen fühlen sich in den größer gewordenen Gemeinden nicht mehr heimisch. Da herrscht geistliche Not.“ Für diese Menschen seien Eremiten ein Anker. Menschen kämen, um Gebete zu erbitten für persönliche Anliegen. Sie lebe als Eremitin nicht, um einsam zu sein. Sondern um in der Zurückgezogenheit mit Gott eins zu werden und gleichzeitig offen zu sein für Menschen, die Rat und Trost suchen. „Denen sage ich aber auch; ‚Wir sind alles arme Menschlein. Und irgendwann steht jeder allein vor Gott. Das sollten wir bei unserem Glauben bedenken.‘ Jeder muss selbst etwas tun.“
Mittlerweile zwitschern die Vögel wieder. Auf weißen Monoblocks sitzen wir und schauen den Ziegen zu. Ein Glas Wasser in der Hand. Idylle rundherum. Maria Anna Leenen spricht sehr persönlich darüber, wie sie Schicht für Schicht Äußerlichkeiten ablegen konnte auf ihrem Weg zu Gott. Diese persönliche Art ist es auch, die auch mich als Fragenden auch zum Erzählenden werden lässt. Sie wirkt in sich ruhend, nicht getrieben. „Ich weiß einfach von der Existenz Gottes. Da kann ich gelassen sein.“