Titelthema: 22 Fragen
Freiräume für den Glauben
Pater Mertes ist Schulleiter und brillanter Denker. In fast 30 Berufsjahren hat er zahllose Untiefen erlebt. Ein Gespräch über illegale Flüchtlinge an seiner Schule, das Mädchen, das ein Junge sein wollte, und seinen Umgang mit Wut über Eltern
1. Pater Mertes, wo sind Sie in Ihrem Beruf schon gestolpert?
Das bin ich schon häufig. Zum Beispiel als junger Lehrer in Hamburg. Eine Schülerin mit schweren Gewalterfahrungen in der Familie stand vor mir: „Ich möchte bei Ihnen wohnen.“ Sie suchte Schutz.
2. Wie ging es weiter?
Das Mädchen lebte in einer Jugendgruppe des Jugendamtes. Eines Nachts rief sie um ein Uhr an. Ein anderer Junge in dieser Einrichtung hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Jugendlichen hatten den verantwortlichen Mitarbeiter angerufen.
3. Und der konnte nicht helfen?
Der hatte gesagt: „Jaja, verbindet ihm die Wunde. Ich komme morgen Abend zum Gespräch.“ Diese Jugendlichen aber waren völlig auf sich allein gestellt. Sie brauchten jemanden, der sich für sie zuständig fühlte. Hier kam ich mit meiner Unterscheidung von privat und professionell nicht mehr zurecht.
4. Was meinen Sie damit?
Wenn ich merke, dass auch andere professionelle Stellen an ihre Grenzen kommen, kann ich mich nicht zurückziehen. Da bin ich als Person voll gefordert.
5. Wie ist das heute als Schulleiter?
Dazu wieder ein Beispiel: Ein 16-jähriges Mädchen möchte an unserer Schule angemeldet werden und sagt: „Ich möchte als Junge vorgestellt werden.“ Ups … Ich habe eine Meinung zum Thema sexuelle Vielfalt. Nun aber sitzt dieser konkrete Mensch vor mir. Da kann ich entweder meine Entscheidung vertagen, um mich zu beraten, oder sofort entscheiden. Denn da entscheidet sich etwas Grundsätzliches in unserem Verhältnis zueinander. Deshalb habe ich gesagt: „Ich werde dich als Erich vorstellen.“ Manchmal muss man Kindern und Jugendlichen sofort ein positives Entgegenkommen signalisieren.6. Das geht aber auch nur bedingt – oder?Ja, natürlich. Alle weiteren praktischen Fragen haben wir später geklärt.
7. Sind Sie mit solchen Entscheidungen schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten?
Das bin ich als Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin. Zwei Jugendliche mit sehr schwieriger Fluchtgeschichte waren illegal in Deutschland und lebten im Kirchenasyl. Nun war die Frage, ob sie bei uns in die Schule gehen könnten. Schulleiter aber haben eine Meldepflicht, wenn sich Flüchtlinge ohne Papiere in ihrer Schule aufhalten.
8. Damit waren Ihnen juristisch doch die Hände gebunden …
Ja, aber … Ein Kollege mit jüdischem Hintergrund, dessen Eltern aus Deutschland geflohen waren, meinte: „Wenn ein Mensch an meine Tür tritt und mich um ein Stück Brot bittet, dann frage ich nicht: ‚Hast du einen Pass – Ja oder Nein?‘ Genauso ist es mit Kindern, wenn sie fragen, ob sie bei uns lernen dürfen.“ Ich musste über meine Ängste hinwegspringen. Dann habe ich gesagt: „Ich mach´s.“
Klaus Mertes reckt sich. Es ist 19.15 Uhr. Draußen ist es dunkel. Eine lange Anreise und ein Vortrag über ökumenische Aspekte des Märtyrertums stecken Mertes schon in den Knochen. Dennoch ist er fit und schlagfertig. Es fällt auf: Der Mann brennt für seinen Beruf. Die vorbereiteten Fragen liegen längst an der Seite.
9. Was bedeutete das für Sie?Mit so einer Entscheidung ändert sich etwas für einen. Ich konnte sehr viel Ärger bekommen aber keine Verantwortung mehr abgeben.
10. Wie sahen Konflikte mit Schülern aus?Als ich das erste Mal einem Schüler sagen musste, dass er nicht versetzt würde, bedrängte er mich und schrie mich irgendwann an: „Sie sind ein Arschloch!“

11. Sind Sie nicht wütend geworden?
Nein. Das war aus dem Affekt heraus. Wütend werde ich eher, wenn Schüler oder Eltern hinter meinem Rücken etwas gegen mich machen. Dennoch: Wenn jemand mir gegenüber übergriffig wird, darf ich das umgekehrt trotzdem nicht. Das ist das Prinzip „Wenn dir jemand auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin“. Das bedeutet: zugewandt bleiben, aber gleichzeitig das Gesicht spiegelhart machen, damit ich den Schlag aushalten kann. Das muss ich machen, um einen Angriff nicht ins Innere gelangen zu lassen.
12. Aber wie gelingt das?
Nehmen wir E-Mails, die oft mit Unterstellungen arbeiten. Dann heißt es für mich: Nicht sofort antworten. Und mit jemandem darüber sprechen. Als Lehrer braucht man gute Kollegen und Freunde, denen man sein Herz ausschütten kann. Ich neige dazu, Schülern oder Eltern nicht zu zeigen, wie sehr mich etwas verletzt.
13. Irgendwann müssen Sie ihrem Kritiker aber antworten.
Stimmt: Kürzlich etwa musste ich eine junge Kollegin schützen und habe auf die E-Mail einer Mutter geantwortet. Ich war unglaublich wütend, weil sie diese sehr engagierte Lehrerin seitenlang fertigmachte, nur weil die eine Kleinigkeit übersehen hatte. Da hatte es geheißen: „Wir sind tief enttäuscht von ihr und von der Schule.“ Da habe ich zurückgeschrieben: „Ich weise Ton und Inhalt Ihrer Mail gegenüber meiner Kollegin zurück. Es handelt sich bei Ihr um eine äußerst gewissenhafte Lehrerin. Wenn Sie das Vertrauen in unsere Schule verloren haben, dann ziehen Sie daraus bitte die Konsequenzen.“ Ich schicke die Mail los. Eine halbe Minute später klingelt das Telefon. Die Mutter ist dran. Und ich sage: „Ich möchte jetzt nicht mit Ihnen sprechen. Ich bin so zornig auf Sie. Wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, mache ich Fehler. Ich werde mich erst wieder an Sie wenden, wenn ich meine Gefühle wieder im Griff habe.“
14. Warum thematisieren Sie Ihre Gefühle?
So gehe ich kommunikativ von der Ebene des Übergriffs auf die des persönlichen Gesprächs. Damit verbunden ist die Unterscheidung zwischen dem Sprechen über die Gefühle und dem Ausleben der Gefühle.
Federleicht springt Klaus Mertes zwischen einfachem Beispiel und akademischer Diskussionen. Er ist als Wissenschaftler gefragt und bezieht politisch Stellung – etwa wenn er gegen Jens Spahns Politik der Herzenshärte fordert: „Regiert das Land mit der Bergpredigt im Kopf und im Herzen.“
15. Weshalb ist das so wichtig?
Selbst wenn ich mich schwach fühle, bin ich aus Sicht von Schülern und Eltern in einer Machtposition. Das muss ich als Lehrer und erst recht als Schulleiter bedenken. Ich handle nicht angemessen, wenn ich mich Eltern oder Schülern gegenüber als Opfer darstelle. Auch darf ich meine Macht nicht mit Gewalt ausüben.
16. Wann ist Ihnen diese Einsicht gekommen?
Schon während meines Referendariats in den 1980er Jahren im Frankfurter Süden. Dort sollte viel Machtasymmetrie zwischen Schülern und Lehrern abgebaut werden. Gleichzeitig bereitete ich mich auf die Priesterweihe vor, also auf ein Amt mit Macht. Ich musste mich entscheiden: Stehe ich dazu, dass ich in einem Beruf mit einer Machtposition bin? Oder versuche ich das abzubauen?
17. Mit welchem Ergebnis?
Ich habe mich für das Erste entschieden. Oft werde ich im ersten Moment von Schülern und Lehrern als distanziert wahrgenommen. Doch meine Erfahrung zeigt: Erst wenn die Distanz stimmt, kommt eine Nähe zustande, die nicht zustande kommt, wenn die Distanz nicht stimmt.
18. An Sie als Jesuit: Was können Lehrer von Ignatius lernen?
Das Wichtigste ist, dass die Schüler nicht das erkennen, was der Lehrer will, dass sie es erkennen. Sondern dass sie zu eigenen Erkenntnissen kommen, die auch der Lehrer nicht vorhersehen kann.
19. Geht die aktuelle Schulpolitik in diese Richtung?
Nein, die reproduzierbaren Inhalte werden immer wichtiger. Der Lernprozess ist immer stärkeren Steuerungsanforderungen unterworfen. Damit wird – ignatianisch gesprochen – das Heiligtum im Beziehungsgeschehen von Lehrer und Schüler behindert. Die Bildungsforschung bestätigt, dass der Lernerfolg von der Beziehungsqualität von Lernenden und Lehrenden abhängt. Die gewählte Methode macht nur drei oder vier Prozent aus.
20. Wie reagieren Sie auf rassistische Töne im Unterricht?
In meiner Religionsklasse habe ich AfD-affine Schüler und Flüchtlinge – oft Muslime. In der Oberstufe nehme ich bei biblischen Texten auch die Rezeption im Koran. Mal lautet der Vorwurf: „Der Islam verherrlicht Gewalt. Wir haben dazu ein Video von Geerd Wilders mitgebracht.“ Da sieht man: Die Jugendlichen sind von dessen Argumentation beeindruckt. In diesen Diskussionen muss klarwerden, dass das aber keine Meinungsäußerungen sind, sondern Beleidigungen und schwere Verletzungen der Würde von Menschen.
21. Was antworten Sie auf den Vorwurf, der Koran rufe zur Gewalt auf?
Dann lesen wir solche Passagen, aber ebenso in der Bibel etwa Kapitel 15 im ersten Samuelbuch. Das ist auch ein Aufruf zur Gewalt. Wir müssen solche Texte historisch-kritisch einordnen.
22. Wie sehen Sie angesichts der aktuellen Situation der Kirche heute die Aufgabe des Religionsunterrichts?
Die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Institution ist erschüttert. Aber die Frage nach Gott ist unverändert da. Wir müssen Jugendlichen Grundwissen über Religion vermitteln und sie dahinführen, dass sie eine kritische religiöse Urteilsfähigkeit erlangen. Sonst liefern wir gerade die, die auf einer religiösen Suche sind, Verführern und Fundamentalisten aus. Deswegen ist der Religionsunterricht für den Einzelnen und für die Gesellschaft so wichtig.
Interview: Rainer Middelberg
Fotos: Andreas Kühlken
Kind einer Diplomatenfamilie
Klaus Mertes wurde 1954 als zweites von fünf Kindern in Bonn geboren. Sein Vater war Diplomat. Bis zu seinem elften Lebensjahr lebte Klaus Mertes mit seiner Familie in Marseilles, Paris und Moskau. Mit 23 Jahren trat er in den Jesuitenorden ein, wurde 1986 zum Priester geweiht und ist seit 1990 Lehrer. Im Jahr 2000 wurde er Rektor des Canisius-Kollegs Berlin. Bundesweit bekannt wurde er, als er dort 2010 Fälle von sexuellem und psychischem Missbrauch öffentlich machte. Seit 2011 leitet er das Kolleg St. Blasien.