Titelthema: wut und zerissenheit

Mit Wut und Zerrissenheit

Ihm geht es ums Thema, nicht um sich: Als Religionslehrer ist Jens Kuthe ein Gesicht jener Kirche, die sexuellen Missbrauch vertuscht hat. Mittlerweile weiß er, dass seine Mutter von einem Ordenspriester missbraucht wurde. Ein Spaziergang

Farbiges Herbstlaub, manche Bäume schon nackt, feiner Nieselregen in der Luft – Jens Kuthe und ich treffen uns an einem Wanderer-Parkplatz. Wir kennen uns beruflich: er als Mitarbeiter beim Bistum Osnabrück, ich als Journalist. Dass wir hier durch die Idylle des Nettetals nördlich von Osnabrück streifen, war vor einer Woche nicht geplant. Da klingelte das Telefon: „Herr Middelberg, die Person mit dem Elternteil, das sexuell von einem Priester missbraucht worden ist – das bin ich.“ Schweigen. Wie reagieren? Betroffenheit zeigen? Sofort sachlich werden?

Körperliche Übergriffe bei jedem Heimaturlaub

Das Thema sexueller Missbrauch hatten wir in der Redaktion diskutiert. Jens Kuthe ist nicht derjenige, der das Scheinwerferlicht sucht. Aber der 37-Jährige hat den Mut, dem Thema auch innerhalb der Kirche ein Gesicht zu geben – mit Zerrissenheit und wahnsinniger Wut. Nun stapfen wir den Hang hoch zu den Resten der Wittekindsburg. Moosüberwucherte Steine liegen vor uns. Und Jens Kuthe erzählt.

Am heimischen Küchentisch hat ihm seine Mutter Johanna von ihrem Leid erzählt. Das war vor rund zehn Jahren. Bis dahin hatte er keine Ahnung. Johannas Vater war schon früh gestorben. Er saß bei einer Dienstreise in einem Flieger, den ein betrunkener Pilot in den Boden rammte. Johanna, ihr Zwillingsbruder und die zwei jüngeren Schwestern wachsen in Hameln bei ihrer Mutter auf. Die Familie ist katholisch. In den 1960ernnimmt das Unheil seinen Lauf. Johanna ist acht Jahre alt. Ein Steyler Missionar ist in Deutschland auf Heimaturlaub.

Die frühere schlesische Heimat verbindet ihn mit der Mutter. Er ist im Haus der Familie gerngesehen und nutzt die Leerstelle im Familiengefüge aus. Er verbringt in den Folgejahren in jedem Heimaturlaub einige Zeit hier. Körperliche Übergriffe bei Johanna unterlässt er erst, als sie im Studium Roland, ihren späteren Mann, kennenlernt.

Sich der Mutter öffnen? Das ist keine Option. So eine Ungeheuerlichkeit liegt außerhalb der Vorstellungskraft. Dabei ist Johanna wohl nicht allein mit ihrem Elend. „Dass dieser Mann nur meine Mutter missbraucht hat, ist sehr unwahrscheinlich“, sagt Jens Kuthe. Und so bleiben die Opfer allein.

Viele Menschen zerbrechen an sexuellem Missbrauch. Die Entwürdigung, nicht mehr die Macht über den eigenen Körper, die eigene Sexualität zu haben, lässt sie seelisch erkranken. Johanna Kuthe aber findet einen Weg. Sie studiert Medizin in Hannover, lernt in der Hochschulgemeinde Roland kennen. Irgendwann kann sie ihm erzählen, was ihr passiert ist. Das Geschehene wird Teil ihrer gemeinsamen Geschichte.

Sie heiraten, gründen eine Familie, ziehen nach Ostfriesland. Dorthin, wo die Dörfer klein und die Wiesen weit sind. Katholisch sind sie immer noch, aber ohne engen Draht zur Heimatgemeinde. Sie halten Kontakt zu einzelnen Menschen, die aus dem Glauben heraus für andere da sind. Über diese Vorbilder machen Sie ihren Kindern das Angebot, ihren eigenen Glauben zu finden. Da ist Schwester Silvia, eine Missionsdominikanerin, die das Projekt FIDESCO in den Slums von Bogotá in Kolumbien mit aufgebaut hat. Oder Pater Clemens Freyer SJ, den Vater Roland schon 1972 auf einer Missionsstation in Simbabwe kennenlernte und seither unterstützt. „Über die Entwicklungsarbeit haben wir wunderbare Menschen kennengelernt. Enthusiastisch, vom Glauben durchflutet.“

Immer wieder halten wir auf unserem Weg durch den Wald. Es ist eher nachdenkliches Spazieren als sportliches Wandern. Jens Kuthe wählt seine Worte mit Bedacht. So kommen wir auf seine Jugend. Jens genießt große Freiheit. Heavy Metal und Gothic sind seine Musik, häufig wird mit den Eltern gestritten. Aber sie lassen ihn seine Wege gehen und unterstützen ihn: „Du kannst eine Frau oder einen Mann als Partner mitbringen. Und du kannst Handwerker werden oder Jurist.“ Nur eines war für die Mutter klar: „Eines machst du nicht: Du wirst kein Priester!“ Erst vor zehn Jahren hat er diesen Satz endgültig verstanden.

„Möchte verhindern, dass anderen Opfern nicht geglaubt wird.“

Johanna Kuthe weiß immer, wo jener Ordenspriester lebt. Sie wendet sich nach vielen Jahren schriftlich an ihn. Doch er reagiert nicht. 2009 dann die Meldung: Er ist tot. Johanna Kuthe ruft die Zentrale der Steyler Missionare an. Sie berichtet einem Mitbruder vom jahrelangen Missbrauch. „Wie viel Entschädigung wollen Sie?“, lautet sofort die Frage. „Ich möchte kein Geld. Es geht mir nicht um mich. Ich möchte verhindern, dass den

Indiomädchen und -frauen in der Missionsgemeinde Ihres Mitbruders – sollte es je eine wagen, sich an den Orden zu wenden – nicht geglaubt wird und seine Taten vertuscht werden! Ich gehe davon aus, dass man mir als Fachärztin eher Glauben schenkt als einer Indiofrau, wenn es um die Untaten Ihres Mitbruders geht.“ Als dieser Pater den „Seelsorger“ geben will mit der Frage: „Wie steht es denn heute mit Ihrem Glauben an die Kirche?“, bricht Johanna das Telefonat ab.

Jens Kuthe ist mittlerweile Lehrer für Latein und Religion. Außerdem arbeitet er in der Schulabteilung des Bistums Osnabrück. Er ist Teil der Institution Kirche, die so viel vertuscht hat. Und seine Mutter ist ein Opfer. Eine irrwitzige Konstellation. „Ich habe kein Recht auf Wut. Das haben nur die Opfer. Und das müssen wir als Kirche so lange aushalten, wie die Opfer diese Wut spüren“, sagt er. Aber auch: „Von Täter zu sprechen, wäre zu banal. So nennt man auch einen Ladendieb. Man kann gar nicht ermessen, was da an Vertrauen und Zukunft zerstört wird.“ Und zu jenem Peiniger seiner Mutter: „Das war ein Drecksschwein. Das muss man so beim Namen nennen.“

Da ist sie doch, die Wut. „Wie soll ich im Religionsunterricht über hohe moralische Ansprüche der Kirche in bioethischen Fragen diskutieren, wenn die gleiche Kirche ein derart monströses Verhalten zulässt?“ Hier paart sich Wut mit Betroffenheit und Zerrissenheit. Denn Jens Kuthe ist wie viele Tausend andere Religionslehrerinnen und -lehrer eben auch ein Gesicht der Kirche.

Und so hadert er. „Das muss man sich vorstellen: das Hochgebet in der Messe. Das ist doch der Ort des Sakraments. Da heißt es ‚vollende dein Volk in der Liebe, vereint mit … allen Bischöfen und Priestern‘. Da wird also die Heiligkeit gewährleistet durch Menschen, die alles andere als heilig sind. Die schwarzen Schafe sind mittendrin. Dadurch werden aber Opfer ausgeschlossen.“

Und weiter: „Die katholische Seele kocht derzeit zu Recht. Denn die vereinnahmende Formulierung ‚Die Kirche hat Schuld auf sich geladen‘ greift viel zu kurz. Bischöfe und Personalverantwortliche haben vertuscht. Die Fakten liegen auf der Hand. Jetzt ist die Frage, ob diese Bischöfe auch die Verantwortung übernehmen und an die eigenen Strukturen herangehen, die dieses System ermöglicht haben.“

Der Nieselregen hat aufgehört. Der Himmel reißt auf. Eine Szene für einen versöhnlichen Abschluss? Jens Kuthe wiegt den Kopf: „Was wissen wir schon, was Menschen wie dieser Missionar in ihren Missionsländern getan haben? Wir haben keine Ahnung, was noch alles im Verborgenen liegt.“ Und schließlich: „Ich kann den Opfern nur wünschen, dass Sie Menschen, wie meinen Vater finden, die das alles in Liebe ein ganzes Leben lang mittragen.“

Text: Rainer Middelberg

Fotos: Andreas Kühlken

 

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