Titelthema: 22 Fragen
Ordenspriester im Bischofsamt
Seine Äußerungen zum Missbrauchsskandal, zur DNA der Kirche und zu Drewermann schlugen Wellen. Die Person Heiner Wilmer ist weniger bekannt. Besuch bei einem Ordenspriester im Bischofsamt, der dtheologisch klar denkt und Klartext spricht
1 Wie fühlt es sich an, nicht mehr in einer Ordensgemeinschaft zu leben?
Das war mir zu Anfang nicht ganz geheuer. Als Ordensmann habe ich immer in Gemeinschaft gelebt. Ich habe hier glücklicherweise eine Gemeinschaft von Canisianer-Brüdern vorgefunden, mit denen ich morgens und abends gemeinsam bete und auch mittags esse.
2 Wie war im Rückblick der Start als Bischof?
Ich bin sehr herzlich begrüßt worden und fühle mich schon heimisch. Doch der Aufschlag war schon recht heftig. Ich hatte nicht erwartet, dass mich das Thema sexueller Missbrauch so sehr in Beschlag nehmen würde.
3 Und die Arbeit im Flächenbistum Hildesheim?
Ich finde es überschaubar. Ich bin nicht mehr 20 bis 30 Stunden zu einem Ziel unterwegs. Schön ist, dass ich wieder in meiner Muttersprache denken, schreiben und sprechen kann.
4 Wie war das zuvor?
Sitzungen verliefen meistens auf Englisch und Italienisch, sonst vieles auf Spanisch und Französisch. Deutsch kam wenig vor. Selbst wenn man eine andere Sprache gut gelernt hat, ist es etwas anderes, seine Muttersprache mit ihren Nuancen und Stimmungen verwenden zu können.
5 Was bedeutete das für Sie als Seelsorger?
Als Seelsorger ist geringeres Sprachvermögen nicht so entscheidend wie in Verhandlungen und Verwaltungsangelegenheiten. John Henry Newman hat Recht: „Cor ad cor loquitur – das Herz spricht zum Herzen.“ Menschen spüren sofort, ob jemand etwas mit ihnen zu tun haben möchte.
6 Sie haben viel positives Feedback erhalten. Wie schützen Sie sich vor Eitelkeit?
Eitelkeit ist eine Falle. Ich versuche, andere an meinen Schwächen teilhaben zu lassen. Wenn etwas gelingt, sage ich: „Das habe ich nicht alleine gemacht.“ Ich bin zwar gerade die Gallionsfigur, aber dahinter stehen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne die es nicht gelingen würde.
7 Wie gehen Sie damit um, wenn Ihnen keine Wertschätzung entgegengebracht wird?
Innerlich versuche ich mich unabhängig zu machen. Wenn ich morgens beim Blick in den Spiegel sagen kann: Ich, Heiner Wilmer – nicht ich, Bischof – bin mit mir im Reinen, dann freue ich mich. Gott wollte mich so wie ich bin. Und im Letzten ist mir das Ja dieses Gottes wichtiger als das Ja oder das Nein eines Menschen.
8 Sie sind Herz-Jesu-Priester. Was ist das Spezifische der Herz-Jesu-Spiritualität?
Das liegt vielleicht darin, die Glut unter der Asche zu entdecken. Herz-Jesu-Spiritualität knüpft an die großen Sehnsüchte der Menschheit an: Wie geht Geborgenheit? Wie finde ich ein Dach über meinem Kopf – vor allem angesichts der Unbehaustheit meiner Seele? Dazu kommt der Wunsch nach Gemeinschaft. Herz-Jesu-Spiritualität schafft ein Netzwerk, nicht um optimierte Wirtschaftsprozesse zu ermöglichen, sondern um lebendiger zu werden. So wie Martin Buber es sagt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“
9 Was folgt daraus für die Leitung eines Bistums?
Menschen zu führen, heißt, sie aufzurichten. So mit ihnen umzugehen, dass sie nach der Begegnung wohl in ihrer Haut stehen. Herz-Jesu-Spiritualität meint, dass jeder gut in sich selbst ankommt.
10 Wie passt dazu die überlieferte Herz-Jesu-Bildsprache?
Ja, das herausgehobene Herz aus dem Kreuz – der Außenbordmotor. Diese künstlerischen Ausdrucksformen sind uns heute zu kitschig, fast schon kindlich. Deswegen finde ich das Bild mit der Glut in der Asche sinnvoller.
Schlank, im schlichten schwarzen Anzug tritt Bischof Wilmer zurückhaltend auf. Als Generaloberer war er wochenlang nur mit einem kleinen Koffer fürs Handgepäck unterwegs. Das Bischofshaus hat er kaum verändert. Markant sind lediglich vier neue Bilder: Fotografien von Charles de Foucauld, Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer und Therese von Lisieux.
11 Wie sind Sie als Schulleiter damit umgegangen, wenn Sie mit Eltern über schulisches Scheitern sprechen mussten?
Ich erinnere mich an die Mutter eines Jungen, die völlig aufgelöst zu mir kam: Mathe fünf, Englisch fünf, Physik vier minus und so weiter. In so einer Situation habe ich immer gesagt: „Entspannen Sie sich. Ich sag ihnen mal die Wahrheit.“ Dann habe ich eine Pause gemacht, so dass die Eltern mich mit großen Augen angesehen haben.
12 Und im konkreten Fall?
Da habe ich gesagt: „Sie haben einen richtig starken Sohn. Er ist in der Pause mit anderen zusammen, etwa beim Fußball. Ich habe gesehen, wie er einem Mädchen geholfen hat, das einen Unfall hatte. Er hat Anstand und ein Gefühl für Freundschaft. Sie können auf ihn stolz sein. Und es wäre bitter, wenn er als Mensch hier fehlte.“ Diese indikative Ebene habe ich verstärkt. Das Problem an Schule ist oft der Imperativ. „Du musst dich anstrengen und disziplinieren.“ Statt zu sagen: „Schön, dass du da bist.“ Mit dieser Wertschätzung konnten wir überlegen, wie wir helfen konnten. Ich habe signalisiert: Das ist keine Katastrophe. Das Leben darf in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ablaufen. Mein Ansatz war immer: Zusage vor Ansage. Zuspruch vor Anspruch.

13 Können Sie das als Bischof durchhalten?
Das will ich auf jeden Fall versuchen. Die eigentlichen Fragen sind nicht: Welche Zahlen haben wir im Bistum? Welche Rücklagen sind da? Die eigentliche Frage ist: Wie gehen wir um miteinander? Wie werden die Mitarbeitenden auch als Menschen, nicht nur als Arbeitskräfte, wertgeschätzt.
14 Welche Note würden Sie der Kirche im Fach Glaubwürdigkeit geben?
Nicht gut zurzeit. Das Thema sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch ist nur eines von mehreren. Da ist auch die Sprache, mit der wir über den Glauben sprechen. Oder die Frage, wie authentisch wir das Evangelium leben. Inwieweit wir wirklich bei den Menschen sind. Und zwar ganz wörtlich gemeint, unorthodox. Jesus sagt: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Das können wir ausweiten: Das Gesetz ist für den Menschen da, nicht der Mensch für das Gesetz. Wir tun uns schwer in der Institution, den Menschen wirklich in den Mittelpunkt zu stellen. Wir kommen noch zu sehr mit dem Blick von oben.
15 Und was hilft dagegen?
Oft wird ja die Textstelle vom guten Hirten zitiert. Doch ist die Annahme irrig, der gute Hirt sei der Bischof, der Pastor oder Lehrer. Der gute Hirt im Evangelium ist unsichtbar. Es ist Gott. Amtsdünkel scheint ihm fremd. Bischof Wilmer argumentiert biblisch stringent und theologisch klar. Dabei vermittelt er den Eindruck, dass seine Einsichten sein Handeln konsequent leiten – auch wenn sie amtskirchlichen Gewohnheiten widersprechen.
16 Welches Bild wäre passender?
Das der Emmausjünger: Sie haben die Katastrophe der Kreuzigung erlebt, die unglaubliche Geschichte mit Ostern. Ihre Gemeinschaft ist zerfleddert. Dann sind sie pilgernd Schulter an Schulter unterwegs. Auch wir sind unterwegs, gemeinsam, Schulter an Schulter. Und wir nehmen den selben Horizont in den Blick. So sind wir auch nicht paternalistisch unterwegs, als müsste ein Vater sein Kind versorgen. Wir stehen alle auf demselben Boden, auf gleicher Höhe, mit denselben menschlichen Sehnsüchten. Das sind die eigentlichen Themen. Alles andere ist nachgeordnet.
17 Bei einem Skandal wie jetzt um den Umgang mit sexuellem Missbrauch hätte ein Politiker zurücktreten müssen. Warum ist das bei der Kirche anders?
Ich bin skeptisch, ob es immer der beste Weg ist, zurückzutreten. Das lässt sich nicht pauschal beurteilen, sondern hängt immer davon ab, was jemand sich konkret hat zu Schulden kommen lassen. Richtig finde ich, dass jemand in Verantwortung öffentlich sein Vergehen bekennt, dafür einsteht und haftet – bis hin zu einer Bestrafung. Ganz klar.
18 Kennen Sie eine Institution mit vorbildlicher Fehlerkultur?
Spontan fällt mir keine ein.
19 Was macht Sie so frei, für einen Bischof außergewöhnlich Klartext zu sprechen?
Ich bin Ordensmann und habe den Rückhalt einer Gemeinschaft. Auch komme ich von außen in dieses System. Ich liebe meine Kirche und die Menschen. Und ich sehe mich in Verantwortung. Aber von institutionellen Gefügen bin ich nicht abhängig. Und schließlich habe ich einiges außerhalb der Kirche gesehen, was mich sehr geprägt hat.
20 Was meinen Sie damit?
Ich habe riesige Armut gesehen. Menschen, die in ganz schrecklichen Umständen gelebt haben. Wir stöhnen hier auf hohem Niveau, während Menschen andernorts Angst um ihre Existenz haben. Wir brauchen kritische Distanz und die Schulung der Urteilskraft. Das halte ich für einen Schlüssel bei der Heranbildung von Persönlichkeiten.
21 Wie gelingt Ihnen das gerade als Bischof?
Erstens möchte ich gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu einer fundierten Meinung kommen. Das muss aber nicht meine sein. Zweitens habe ich gute Berater, die nicht von mir abhängig sind und mir ungeschminkt sagen, was gut oder schlecht gelaufen ist. Drittens gehe ich durch das Gebet immer wieder auf Distanz zu dem Ganzen. Zwischendurch ziehe ich mich ganz raus. So werde ich mich bald wieder einmal in ein französisches Kloster zurückziehen.
22 Dort weiß man aber, wer Sie sind …
Sie kennen mich, weil ich schon mal da war. Und sie wissen, dass ich Ordensmann bin, aber nicht dass ich jetzt Bischof bin. Für sie kommt Heiner Wilmer, der Deutsche. Mehr nicht.
Interview: Rainer Middelberg
Fotos: Andreas Kühlken
Vorgesehen als Hoferbe
Heiner Wilmer wurde 1961 als ältestes von vier Kindern einer Bauernfamilie im emsländischen Schapen geboren. Er sollte den Hof übernehmen. Nach dem Abitur trat er 1980 dem Herz-Jesu-Orden bei. 1987 folgte die Priesterweihe. 1995 wurde er Lehrer für Religion, Geschichte und Politik in Vechta, 1997 Lehrer in New York, 1998 Schulleiter des Gymnasiums Leoninum Handrup. 2007 wurde er Provinzial der Herz-Jesu-Priester in Deutschland, 2015 Generaloberer in Rom und 2018 Bischof von Hildesheim.