Titelthema: unterwegs

Ohne Heimat auf ein Ziel hin

Für sie ist Pilgern kein Event. Erst recht kein einmaliges. Katrin Witzel nutzt regelmäßig das Angebot des gemeinsamen Pilgerns für Religionslehrkräfte. Sie beschreibt, wie schweigendes Gehen und gemeinsames Gebet ihr helfen, Gott zu erfahren

Wie Pilgern geht? Eigentlich ist es ganz simpel: einfach losgehen! Doch die folgenden Gedanken kennt vermutlich jeder: „Wohin soll es gehen? Und wann? Ich habe doch keine Zeit. Und in den Ferien will ich reisen, so vieles ist noch zu erkunden.“ Daher war es für mich hilfreich, mich einer Pilgergruppe anzuschließen.

Natürlich haben Wandern und Pilgern viel gemeinsam: Ich gehe zu Fuß durch die Welt, trage mein Gepäck auf dem Rücken und habe für die Dauer der Pilgerreise kein Zuhause. Abends kehre ich in einer Herberge ein und begebe mich am nächsten Morgen wieder auf den Weg. Während ich aber beim Wandern die Schönheit von Landschaft und Natur bewundere und mir besondere Ziele setze, steht für mich beim Pilgern das bewusste Erleben des Gehens in Gemeinschaft, in stiller Einkehr und spiritueller Versenkung im Vordergrund.

Den Alltag hinter mir lassen

Ich erlebe die Dimension Zeit ganz neu, das Unterwegssein zu Fuß. Das ist anders als sonst, wenn ich meist mit Rad oder Auto schnell unterwegs zu einem Ziel bin. Beim Pilgern erlebe ich plötzlich die Langsamkeit des Gehens, die anfangs schwer zu ertragen ist. Das fordert von mir Geduld, die ich im Alltag nicht habe. Erst ganz langsam gelingt es, in diesen neuen Modus des Unterwegsseins zu gelangen, bei dem tatsächlich der Weg das Ziel ist. Hierbei hilft das immer gleiche Schritt-für-Schritt-Setzen. Ich werde einerseits aktiviert und gerate andererseits in einen monotonen meditativen Bewegungsrhythmus, der mich an das Rosenkranzbeten erinnert. Gedanken, Probleme und Gefühle des Alltags kommen hoch und ich habe Zeit, sie zu überdenken. Und irgendwann gelingt es, sie beiseitezu- lassen. Dann komme ich im Hier und Jetzt an und kann innerlich offen werden für die Wahrnehmung der Umwelt und die Wirklichkeit Gottes. Dann kann ich mich auf einen Impuls einlassen, ihn meditieren und beten.

Ich gehe gerne beim Pilgerweg für Religionslehrkräfte mit. Der Tag beginnt mit einem Morgengebet, zum Beispiel in einer Kapelle. Unseren Weg strukturieren unterschiedliche Phasen. In offenen Wanderphasen ist Zeit für das gegenseitige Kennenlernen, für zwangloses Plaudern und tiefgehende Gespräche. Zwischendurch bleiben wir stehen, um einen Bibelvers oder einen Impuls zu hören oder ein Lied zu singen. Manchmal begeben wir uns mit einem Kunstwerk oder einen Bibelvers zum Meditieren auf die nächste Wegstrecke. 

Es folgt eine Phase des stillen, schweigenden und doch gemeinsamen Gehens. Wer es noch nicht erlebt hat, ahnt nicht, wie schön und bereichernd das sein kann! Liegt eine Kapelle am Wegesrand, kehren wir für ein Gebet ein. Während der nächsten Wegstrecke tauschen wir uns zu zweit über den Bibelvers oder das Bild aus, manchmal sind die Gespräche überraschend, manchmal eröffnen sie völlig neue Perspektiven.

Im bewussten Erleben der Pilgertage geschieht es zuweilen, dass die Tage durchsichtig werden, dass ich sie als Bild für mein Leben ansehen kann: unterwegs mit anderen, bisweilen im Regen, immer auch angewiesen auf andere, letztlich ohne Heimat, unterwegs auf ein Ziel hin. Hier kann ich kritische Distanz zu sonst typischen Aufgeregtheiten einnehmen und das Wesentliche neu entdecken. 

Sinnbildlich steht für mich ein Erlebnis als Jugendliche während einer „Wanderung mit Bibel und Rucksack“. Es war das Essen eines trockenen Stücks Brot bei einer Rast bei den Kleinen Brüdern Jesu. Weniger war mehr: Das Brot stillte lediglich unseren Hunger. Aber genauso wichtig war das Empfinden der Gemeinschaft und des tröstlichen Versorgtwerdens. Vielleicht sind das die Momente, in denen Gott besonders erfahrbar wird.

Ausgerichtet auf Umwelt und Gott

Bei den Pilgerwanderungen konzentrieren wir uns nicht weltabgewandt nur auf unsere innere Erbauung. Mystik und Politik gehören schließlich zusammen. Ich empfinde es als bereichernd, dass die an einem Pilgerweg liegenden Besonderheiten wie ein ehemaliges Konzentrationslager oder ein Grenzdurchgangslager einbezogen werden. Denn genau so möchte ich mein Christsein leben: aufmerksam für die Umwelt und meine Mitmenschen – und ausgerichtet auf Gott.

Text: Katrin Witzel

Foto: Andreas Kühlken

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