Titelthema: Alternativen
Was mein Leben reicher macht
Die Sorge, etwas zu verpassen, treibt viele um. Dabei gehören all die Alternativen, die wir im Alltag nicht leben, zu uns dazu. Eine feinsinnige Überlegung des Philosophen Slavoy Žižek
„Herr Ober! Bringen Sie mir bitte einen Kaffee ohne Sahne!“ „Tut mir leid, mein Herr, aber wir haben keine Sahne mehr, darf es auch Kaffee ohne Milch sein?“ Dieser Dialog findet sich in dem 1939 von Ernst Lubitsch nach dem Drehbuch des Ungarn Menyhért Lenyel gedrehten Film Ninotschka.
Klar, der Kaffee bleibt der gleiche, aber er verändert sich doch: Aus dem Kaffee ohne Sahne wird Kaffee ohne Milch. Der slowenische Philosoph Slavoy Žižek behauptet dazu, „dass die verpassten Gelegenheiten im Leben, das, was wir zu tun versäumt haben, genauso zu unserem Leben dazugehören und es mit ausmachen: ‚Erkenne dich selbst‘ heißt nicht nur zu erkennen, was man getan hat, sondern auch, was man nicht getan hat.“
„Augenmusik“ nur für den Klavierspieler, nicht für den Zuhörenden
Und er führt ein zweites Beispiel an: Robert Schumanns Humoreske für Klavier B-Dur op. 20 von 1839. Darin findet sich in den Takten 251 bis 274 zwischen den von der linken und rechten Hand zu spielenden Noten eine weitere Melodie, die auf einem dritten mittleren Notensystem geschrieben ist. Diese von Schumann „innere Stimme“ genannte Melodie wird nicht gespielt. Sie ist als „Augenmusik“ nur dem Klavierspieler, nicht jedoch den Zuhörenden präsent. Etliche Takte später taucht das gleiche Thema wieder auf, doch diesmal ohne innere Stimme.
Slavoy Žižek dazu: „Wie sind diese Noten zu spielen, wenn sie auf der Ebene dessen, was tatsächlich gespielt werden soll, die vorherigen Noten genau wiederholen? Von den tatsächlichen gespielten Noten ist nur das weggenommen worden, was nicht da ist, ihr konstitutiver Mangel. Folglich kehren wir nicht zu der genau angegebenen Notenlinie zurück, wenn die symbolische Wirksamkeit der abwesenden ‚dritten Melodie‘ aufgehoben wird.“ Žižek erkennt eine doppelte Negation: Bezogen „auf den Witz von Lubitsch erhalten wir keinen reinen Kaffee, sondern einen Nicht-nicht-Kaffee-mit-Milch; bezogen auf Schumanns [!] Stück erhalten wir keine reine Melodie, sondern eine Melodie, die des Mangels selbst ermangelt, in dem [!] die fehlende ‚dritte Stimme‘ selbst fehlt.“ Die nicht hörbare Melodie verändert das Stück nicht nur da, wo sie sichtbar, aber nicht hörbar ist. Sie tut es auch, indem sie in dem Kontext fehlt, in dem sie zuvor sichtbar war. Damit gehört sie auch zum Stück.
Wieso macht Kaffee ohne Sahne oder ohne Milch mein Leben reicher? Wie kann unhörbare Musik mich beschenken? Weil deutlich wird, dass mein Leben nicht nur das ist, was ich sehen, hören, schmecken kann, sondern auch das, was nicht da ist. All die Alternativen, die ich nicht gelebt habe, vielleicht gern gelebt hätte, gehören zu meinem Leben wie das, was ich gemacht habe. Žižek: Das „reiche Leben“ „ist nicht das Leben, das ich tatsächlich lebe, sondern mein tatsächliches Leben nebst sämtlichen alternativen Leben, die ich beim Leben dieses einen Lebens versäume.“ Also kann ich gar nichts versäumen. Ich kann leben, ohne Angst, die vermeintlich besseren Alternativen zu verpassen, ohne Angst, zu kurz zu kommen. Das macht mein Leben reicher.
Text: Winfried Verburg; Foto: photocase.de, Andreas F.
Mehr: Slavoy Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018, 44 Euro