Fotos: Andreas Kühlken
Titelthema: beziehungen
Damit sich sich schätzen und dadurch schützen
Auch heute einen wertschätzenden Umgang mit Liebe und Sexualität zu vermitteln, ist nur eine Herausforderung im Alltag von Michael Schmülling. Er ist Religionslehrer und Sozialpädagoge in Göttingen. Ein Mann für Beziehungsarbeit auf vielen Ebenen
Die Gitarre in der Ecke, Fotos von Schulfahrten an den Wänden und die Sitzecke mit Glastisch und kleiner Ikone – sie alle spiegeln die Arbeit von Michael Schmülling wider. Er ist Sozialpädagoge und Religionslehrer an der Bonifatius-Oberschule in Göttingen. Und ein in der Wolle gefärbter Pfadfinder, der den Weg in seinen heutigen Beruf erst suchen und finden musste: erst Banklehre, dann Fachabitur, Freiwilliges Soziales Jahr, Studium der Sozialpädagogik und später die Fortbildung zum Religionslehrer.
Gesprächspartner ohne Notenbuch im Hinterkopf
Nach verschiedenen Tätigkeiten in der kirchlichen Verbandsarbeit ist er seit 2006 an der Bonifatiusschule. Hier arbeitet er mittlerweile mit jeweils halber Stelle als Sozialpädagoge und als Religionslehrer. Mit seiner Stellenbeschreibung kann er unkomplizierte Beratungsangebote machen. In ihm finden Jugendliche einen vertrauensvollen Gesprächspartner, der eben kein Notenbuch im Hinterkopf hat. Der Weg zu Schmüllings erster Stunde heute ist eher ein Spaziergang durch den Süden der Göttinger Altstadt mit hohen Bäumen und Altbauten. Die Schule hat vier Gebäude, drei mit weit mehr als 100 Jahren auf dem Buckel. Sie liegen im Viertel verteilt und haben kein gemeinsames Schulgelände. Die Luft im Gebäude an der Bürgerstraße ist drückend heiß. Der Gong schlägt. Zwei Mädchen begrüßen Michael Schmülling schon auf dem Flur. „Wir wollen Sie abholen“, flöten sie und geleiten ihren Lehrer in den Raum der 6a. Die dritte Stunde beginnt, Vertretungsunterricht Erdkunde. 18 Schülerinnen und Schüler fläzen sich eher auf ihren Stühlen, als dass sie eine Arbeitshaltung einnehmen. Kurz vor den Ferien findet das ausgeteilte Arbeitsblatt wenig Beachtung.

Die Schultern hochgezogen, das Gesicht verheult, den Blick auf den Boden gerichtet öffnet Maike (Schülernamen sind geändert) die Tür des Klassenzimmers. Sie schleicht zu ihrem Platz, ein einzelner Platz ganz hinten im Raum. „Wo kommst du denn jetzt noch her?“, fragt Michael Schmülling. Sein Ton ist ruhig, aber bestimmt. „Ich konnte nicht eher … Ich habe mit …“ Die Stimme des Mädchens bricht. Sie blickt zu Boden. „Beruhige dich erst mal“, sagt Schmülling. Seine gelassene Reaktion zeigt, dass unvorhergesehene Situationen sein tägliches Geschäft sind. Kurze Zeit später geht er mit der Zwölfjährigen auf den Flur. „Ihr andern macht bitte mit dem Arbeitsblatt weiter.“
Michael Schmülling und Maike sprechen auf dem Flur, die Tür bleibt offen. Später erklärt er, dass er so nicht nur der Aufsichtspflicht nachkommen, sondern auch zweifelhafte Situationen alleine mit dem Mädchen ausschließen will. Hier wie auch in Pausengesprächen zeigt sich, dass Schmülling ein Mann für Beziehungsarbeit ist, bei Konflikten zwischen Schülern, Schülern und Lehrern, Schule und Elternhaus, Lehrern untereinander. „Vielleicht ist das ja gelebte Solidarität“, sinniert er. Vielleicht auch praktische Nächstenliebe. In jedem Fall prägt seine Arbeit das Miteinander.
Die Stimmung in der Klasse schaukelt sich derweil auf. Klaus genießt es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und wirft ein Radiergummi durch den Raum. Lautstarke Kommentare von Mitschülern folgen. Die wenigen Minuten ohne Lehrer genügen, um die Arbeitsatmosphäre aus den Angeln zu heben.
Wie in einem Brennglas zeigt sich in dieser Klasse die Situation in vielen integrierten Systemen wie Ober- und Sekundarschulen in Deutschland. Mit der Abschaffung der Schullaufbahnempfehlung ist in Niedersachsen seit 2015 eine Entscheidungshilfe für Eltern zur Wahl der weiterführenden Schule entfallen. Die Übergangsquote zum Gymnasium hat sich auf rund 43 Prozent, zur Integrierten Gesamtschule auf 16 Prozent und zur Oberschule auf rund 21 Prozent eingependelt. Gleichzeitig ist die Inklusionsquote, also der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen stark gestiegen. Besuchten in Niedersachsen 2008 noch 23.000 Kinder eine Förderschule für die Bereiche Lernen bzw. Emotionale-Soziale Entwicklung, waren es 2018 nur noch 9.000 Mädchen und Jungen. Entsprechend mehr Kinder mit diesen Förderbedarfen verteilen sich nun auf Regelschulen – nachweislich weit überproportional auf Haupt- und Oberschulen.
Genau dieser Entwicklung und Kindern wie Klaus stellt sich Michael Schmülling. Klaus wirft wieder Gegenstände durch den Raum. Er spricht laut, ohne äußeren Anlass und lehnt sich zum Hintermann zurück. Bis zum Ende der Stunde bleibt sein Blatt leer. Mehrere Kinder seiner Klasse sind laut Schmülling hyperaktiv oder leiden unter Aufmerksamkeitsstörungen.

Michael Schmülling bleibt dennoch ruhig. Von Platz zu Platz geht er, spricht die Schüler einzeln zu den Aufgaben auf dem Arbeitsblatt an, sucht den Augenkontakt. Die Unruhe in der Klasse scheint er ausblenden zu können. Ihm gelingt in jedem kurzen Gespräch ein ebenso kurzer wie konzentrierter Austausch.
Völlig unbeteiligt davon kauert Maike an ihrem Tisch. „Tut mir leid. Ich habe dich nicht verdient“, schreibt sie mit Filzstift auf ihren Arm, starrt auf die Worte und biegt den Stift, bis er bricht. Wie getrieben greift sie den nächsten Stift und verwandelt ihren Unterarm in eine einzige rote Farbfläche. Von Michael Schmüllings Versuch einer Ergebnissammlung bekommt sie nichts mit. Er lässt sie in Ruhe. Ein Streit mit dem Freund, eskaliert auf dem Schulhof, war der Grund für ihren Frust. Schmülling spricht sie am Ende der Stunde noch einmal an: „Wir können das Problem hier nicht lösen. Vielleicht bringt dir die Pause etwas Ablenkung. Wenn du Hilfe benötigst, kannst du zu mir kommen. In der sechsten Stunde habe ich für dich Zeit.“
Gegenentwurf für eine an Pornos gewöhnte Jugend
Liebeskummer, so normal und doch so brutal. Liebe und Sexualität werden auch hier in der Sekundarstufe I auf vielen Ebenen thematisiert. Vom Sexualkundeunterricht in Biologie über Liebeslyrik in Deutsch bis zur Werteerziehung in Religion. Es ist der Versuch eines Gegenentwurfs zu einer an Pornokonsum gewöhnten Jugend, die erst kürzlich ihre Auswüchse bis auf einen Spielplatz in Göttingen fand: Dort hatte eine Zwölfjährige einen Gleichaltrigen befriedigt. Wie kann und soll Schule mit so etwas umgehen? Ein Präventionskonzept, die enge Vernetzung mit Beratungseinrichtungen und offene Augen und Ohren der Lehrerinnen und Lehrer an der Bonifatiusschule sollen helfen, einen angemessenen Umgang mit Sexualität zu vermitteln. Kein leichtes Unterfangen. „Gerade als Mann habe ich eine Schere im Kopf: Ich möchte im persönlichen Gespräch auch jedem Mädchen gegenübertreten können. Gleichzeitig achte ich aber auf körperliche Distanz.“
Schmülling hält auch die Kleiderordnung an seiner Schule für wichtig. Mädchen sind angehalten, keine Hotpants und freizügige Tops zu tragen. „Ich habe das Bedürfnis, die Mädchen vor gierigen Blicken zu schützen.“ Die mitunter doch sehr knappen Shorts und Tops an diesem heißen Tag zeigen gleichwohl die Grenzen dieses Wunsches auf.
Umso wichtiger ist die Sensibilität auf allen Seiten. „Die Jugendlichen müssen ein Gefühl dafür entwickeln, dass sie nur schützen können, was sie auch schätzen.“ Im Kollegium wirbt er dafür, bis Jahrgang 7 getrennt geschlechtliche Lerngruppen einzuführen. „Dann müssen sich Mädchen und Jungen im Unterricht nicht mehr voreinander produzieren. Vielleicht nähme so eine Schutzzone in der ersten Phase der Pubertät etwas Druck raus.“ Schmülling hat das Thema heute auch im Religionsunterricht auf den Plan gesetzt. „Was verbindet ihr mit dem Begriff Liebe?“, lautet die Frage. „Füreinander da sein“, „Freundschaft“, „Nie mehr allein sein“ lauten einige Antworten. „Zärtlichkeit“, „Sex“ – nein, diese Worte fallen nicht. Vielleicht können sie es in diesem erneut unruhigen Unterrichtsumfeld auch nicht. Erst recht nicht, wenn das andere Geschlecht mit dabei ist. Was aber auffällt: Im persönlichen Gespräch mit ihrem Lehrer sind die einzelnen Mädchen und Jungen trotz des Trubels konzentriert. Sie scheinen Michael Schmülling ernst zu nehmen, einfach als Persönlichkeit. Vielleicht ist dieser individuelle Zugang ein Weg, um mehr Sensibilität wachsen zu lassen.
Text: Rainer Middelberg
Fotos: Andreas Kühlken