Ich muss den Täter nicht mögen
Wie weit geht die Feindesliebe? Reflexionen von Klaus Mertes darüber, wie wir über Vergebung sprechen
Das Talionsprinzip („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) wird oft als Racheprinzip missverstanden. Dabei heißt es in Ex 21,23 ganz klar: „Du sollst geben: Auge für Auge …“ Das ist an den Täter gerichtet und verpflichtet ihn zu Schadenersatz, und nicht an das Opfer, um diesem die Bahn freizugeben für Gegengewalt. Das Missverständnis gab es schon immer. Jesus rückt es in der Bergpredigt zurecht. An die Opfer gewandt fordert er: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ (Mt 5,39). Feindesliebe.
Es reicht, wenn ein Opfer auf Lynchjustiz verzichtet Nun muss das keineswegs bedeuten, dass ich den Menschen, der mir etwas angetan hat, mögen soll. Lieben bezieht sich nicht auf Gefühle, sondern auf Taten beziehungsweise auf Unterlassung von Taten. Es reicht schon, wenn ein Opfer auf Lynchjustiz verzichtet und die Vergeltung dem Herrn überlässt, oder säkular gesprochen: dem Gericht. Das ist auch schon Feindesliebe und, je schlimmer und nachhaltiger der angerichtete Schaden ist, umso mehr.
Eine missglückte Predigt im Bistum Münster über Vergebung schlug kürzlich bundesweit Wellen. Sie bleibt ein guter Anlass, darüber nachzudenken, wie wir in der Kirche über das Thema Vergebung sprechen können und wie wir besser nicht sprechen sollten. Opfer vergeben schon dann, wenn sie darauf verzichten, selbst die Richter zu sein. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ (Antoine Leiris) – so kann man auch die andere Wange hinhalten.
Text: Klaus Mertes