Nachgedacht

Paulus an die Gemeinde in Korinth

Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts. 1 Kor 13,1-3

Ein Kampf durch Geröll – Paulus tritt die agape, die Liebe, in den Weg

Und hätte die Liebe nicht. – Agape, Anklang eines Wortes, das angesichts der Verlorenheit in zirkulierenden Massen aus der Einsamkeit wohl erlösen könnte, aber es hat sich noch kein Sinn verfestigt. Apape: baumkahler Hügel der Erkenntnis, aber das Erkennbare ist noch nicht geworden.

Kraterland. – Es gibt in den Briefen des Paulus keine Bäume. Keine Palmenwedel rauschen in papierner Schärfe. Keine Pinien knarren. Keine Zitronen blühen. Keine Zedern, keine Eichen stehen am Wegrand. Nicht einmal ein Hibiskusstrauch, in dessen Blüten die blauschwarzen Kolibris ihre gebogenen Schnäbel tauchen, kommt vor. Hat er sie nicht gesehen? Lief er in Kleinasien nie bewusst über Hänge voll Lavendel? Atmete er nie den Thymianduft in den Bergen? Dieses Defizit bildet einen bemerkenswerten Unterschied zu den Evangelienerzählungen in ihrer lebenssatten Sinnlichkeit. Paulus lebte wohl in einem Krater. Er nahm wenig wahr. Er kämpfte sich noch dort durch Geröll, wo andere selbstsicher und komfortabel lebten. Die Städte nahmen ihn nicht auf, und das Land war nichts als eine Strecke, die es schnell zu durchmessen galt. Aber nun tritt ihm die agape, die Liebe, in den Weg.

Agape. Wer ist die agape? Das Wort zieht aus dem vorbiblischen Griechisch herauf wie ein Nebel, ein vager, langsam herabsinkender Dunst. Agape war ein seltenes Wort. Das ihm zugehörige Verb agapan schwankte in der Bedeutung, meinte etwas zwischen „sich zufriedengeben“, „etwas gerne mögen“ und „bevorzugen“. Verglichen mit dem rauschhaften eros, der von den Griechen verehrten sinnlichen Liebe, war die agape kühl und diffus wie der Tau.

Erst als eine Übersetzung wird das Wort dichter, empfängt Substanz aus einem anderen Kulturraum, es saugt sich voll: Die Septuaginta setzt das Wort fast durchgehend für das hebräische Verb ahab. Im Grunde wird eine hebräische Vokabel griechisch eingekleidet. Und der dunkle semitische Körper gibt dem Schleier seine Form: In das Gewand fügen sich Sinnlichkeit und Verlangen, Fürsorge und Aufopferung, Treue und Eifersucht. Nichts, was die griechische agape auszeichnete, aber das ist ja nun auch ein Verwandlungsspiel.

Ahab ist in seiner Bedeutung weit wie der deutsche Ausdruck „lieben“. In der hebräischen Bibel hat das Verb vor allem dann einen verstörend tiefen Klang, wenn es auf Gott als Subjekt trifft. Dann bildet ahab einen warmen Grundton, über dem sich die meist rechtlich-theologischen Metaphern des israelitischen Gottesverständnisses wie eine Obertonreihe aufbauen. Liebe – das ist eine Bewegung weit unterhalb der Regelungen des Bundesschlusses, unterhalb der Thora, der kultischen Bestimmungen zu Opfer und Reinheit, eine Schwingung in seltsamer Ambivalenz, rohes Grollen oder Gesang? Die Zärtlichkeiten des liebenden Gottes sind nicht immer menschengemäß. Die Herkunft des Gottes der Israeliten ist vulkanisch: Er ist unberechenbar, glühend.

Ahab oder agapan: Seit der Zeit, als der Jerusalemer Tempel nach 586 v. Chr. zerstört durch die Babylonier lag und Teile des israelitischen Volkes ein traumatisches Exil im Zweistromland erlebten, wurde aus einem seelischen Ausdruck ein spiritueller Weg. Es war die Liebe, die in der Fremde den Menschen in einen nun nicht mehr lokalisierbaren „heiligen Bezirk“ führen konnte, sie wurde gefordert von dem unbehausten Gott, während die kultischen Ordnungen nur noch auf Trümmer wiesen. „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (Deuteronomium 6,4-5) Sinnlich wurde diese Liebe in der Sammlung und im Studium der nun mehr und mehr zur Schrift gerinnenden Überlieferung und im fraglosen Befolgen der Gebote aus der Wüstenzeit.

Kann man Gott lieben? Die Frage ist alt wie das Liebesgebot selbst, und die Bibel ist sehr vorsichtig: Lieben kann man Gott wohl nur im Sinne der Resonanz einer Schwingung, die von Gott ausgeht, die seiner Stimme eigen ist und jedem Wortlaut beigegeben. Liebe – sie ist wie der Klang, in dem Gott die Dinge hervorspricht, sie schaffend benennt, sagen wir besser: besingt. Liebe ist der Tonfall seiner Sprache. Das Dasein eines jeden Geschöpfes ist Liebe, durch Liebe hervorgerufen, und in einer biblischen Spitze kann es heißen: Gott selber sei die Liebe (1 Johannes 4,16). Liebe – das ist das Grundgeräusch der Dinge, Polyphonie des Staunens über ihr Erscheinen. (…)

Angst ist jedenfalls der Liebe zu Gott zu eigen, denn ihr Verlangen bewegt sich hinein in einen Bereich, der nicht mehr menschlich ist. Dem hellenistischen Judentum galt das Martyrium als letzter Ausdruck der agape.

Kann man Gott lieben? In der dürren Sprache der Theorie gefragt, nüchterner: Kann Gott das Objekt eines transitiven Verbs sein? Auch die althebräische Sprache, die viel assoziativer als das Deutsche ist und keine vergleichbar klaren Subjekt-Objekt-Beziehungen kennt, lässt diese Frage zu: Kann ich mit Gott etwas machen, sei es: IHN lieben?

Die Frage perlt an dem Wort agape ab. Die Aagape führt in die Auflösung solcher festen grammatischen Zuordnungen, weil das liebende Subjekt sich verliert in der Liebe, nicht mehr Herr und nicht mehr haltbares Gefäß seiner selbst ist. Das verschwimmende Wesen der Liebenden blitzt am Rand der Worte des Apostels auf im Bild des Spiegels: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Dieses unvorstellbare Gesicht im Gesicht, des Gottes in dem des Menschen und umgekehrt, könnte man vielleicht verstehen wie ein „Gegenüber zweier Spiegel, die ihr Nichtvorhandensein, die ein und dasselbe Bild der Nichtigkeit reflektieren“, denn es ist nichts, was sich zwischen ihnen ereignet, sie ereignen sich eins im anderen. Und die Liebe gibt ihnen ihre Wirklichkeit, als jenen unendlichen Raum ihrer wechselseitigen Spieglung: „ … dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

„Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ Der Befehl der Liebe (was für eine Zumutung!) birgt die ganze Ambivalenz der Thora, die im Wesen eben kein Gesetz, sondern einen Berührung ist, wie eine scheinbar ganz unbeabsichtigte Zärtlichkeit, ein erstes Erkennen: Du? Es gibt dich? Dann erst, und viel später, findet das Gesetz, Ritual der Liebe, zur Erfüllung, wiederholt wie der Liebesakt und unergründlich. Hosea hat als einer der frühesten namentlich bekannten Propheten diesen tiefen Grund der israelitischen „Gesetzesreligion“ in visionärer Schau gesehen: „Darum siehe, ich will sie locken und will sie in die Wüste führen und freundlich mit ihr reden … „ (Hosea, 2,16) Gemeint ist Israel, und die ganze Geschichte des Auszugs aus Ägypten wird zu einer Liebesgeschichte. „Ich“ – das ist dabei der Gott, und der Weg führt stracks in die Weite des unwirtlichen Sinaigebirges.


Auszug aus Christian Lehnert: Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus. Suhrkamp Verlag. 4. Auflage 2018. 24,95 Euro

Passagen aus: Tomás Halík: Geduld mit Gott – Die Geschichte von Zachäus heute, Verlag Herder, 1. Auflage 2017, 12,00 Euro

Illustration: Patrick Schoden