Titelthema: Verlust
Trauernder Onkel
So eng die liebevolle Verbindung in einer Familie sein kann, so groß kann die Trauer werden. Felix Evers, Priester in Hamburg, über seinen neuen Blick auf Seelsorge nach dem Tod seiner Nichte
Früh morgens rief mich mein Bruder an. Judith, meine Nichte, war in der Nacht gestorben. Mit 13 Jahren. Sie hatte Deo aus einer Plastiktüte geschnüffelt, war in Ohnmacht gefallen und an ihrem Erbrochenen erstickt. Als mein Bruder sie wecken wollte, sei sie schon ganz kalt gewesen. Ich sagte alle Termine ab. Von meinem damaligen Arbeitsort Neubrandenburg fuhr ich nach Kronshagen bei Kiel. Im Auto drehte ich Rod Stewart auf, um den Kopf freizubekommen. In 20 Jahren als Priester habe ich auf rund 400 Beerdigungen gepredigt. Doch diese Trauerfeier für Judith war anders. Ich bereitete sie mit einem evangelischen Pastor vor. Am Familiengrab spürte ich, wie ich vom leitenden Geistlichen zum trauernden Onkel wurde. Mir wurde schlecht. Ich weinte, fühlte mich hilflos und träumte mich an andere Orte. Doch dann musste ich – während Judiths Lieblingslied erklang – Erde auf ihren weißen Sarg werfen. In meiner Trauer umarmte ich meinen Pastorenkollegen und ließ ihn nicht mehr los. In den Tagen danach blieb die Familie beisammen. Wir schauten uns Erinnerungsbilder und Videos an, saßen in Judiths leerem Kinderzimmer und blätterten in ihren Schulheften. Das tat uns gut. Nach meiner Rückkehr nach Neubrandenburg zog ich mich eine Woche zu Exerzitien zurück. Judiths Tod hatte mich in meinem Gottvertrauen verwundet.
Mein Verständnis von Seelsorge hat sich seitdem gewandelt. Ich bin empathischer geworden. Vielleicht stimmt es, dass man selbst verwundet werden muss, um Wunden heilen zu können. Wenn mir heute jemand ein Schicksal anvertraut, das meinem ähnelt, beginne auch ich manchmal zu weinen. Unprofessionell? Diese Kategorie habe ich aus meinem Wortschatz gestrichen; ich kann und will mich nicht verstellen. Auch Trauerfeiern gestalte ich anders. Manche Predigt und Ansprache der vergangenen 20 Jahre empfinde ich heute als akademisch, abgehoben, nüchtern. Heute gehe ich individuell auf die Trauersituation ein. Ich lege die vorgeschriebenen Bücher zur Seite, ringe nach eigenen, persönlichen Worten. Und ich bin ungnädig, ja zornig, wenn ich erlebe, dass Kollegen bei einer Trauerfeier den Namen des Verstorbenen falsch aussprechen, unter Zeitnot fahrig werden, nur aus einer DIN-A5-Mappe ablesen. Dann sehe ich mich wieder am Familiengrab in Kronshagen, als der trauernde Onkel. Das sind die heiligsten Momente im Leben. In denen muss alles stimmen. Denn sie sollen trösten.
Text: Felix Evers
Foto: photocase.de/Tinvo