Nachgedacht

Jakobs Kampf am Jabbok

Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabbok. Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, so dass hinüberkam, was er hatte. Jakob aber blieb allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. Gen 32,23-30

Ein Text, zwei Lesarten

„Da rang einer mit ihm“ – traditionell wird hier der Kampf Gottes mit Jakob gesehen. Aber: Handelt es sich bei dem Geschehen vor allem um eine geistliche Metapher für das Gebet, wie Papst Benedikt hervorhebt? Oder sollte der Blick auch auf den körperlichen Kampf gelegt werden, wie es Kerstin Söderblom bei ihrer que(e)ren Re-Lektüre tut? Eine Gegenüberstellung

»Unser ganzes Leben ist wie diese lange Nacht des Ringens und des Gebets, um einen Segen von Gott.«

Im Katechismus der katholischen Kirche heißt es: „Die geistliche Überlieferung der Kirche hat darin [in diesem Text] ein Sinnbild des Gebetes gesehen, insofern dieses ein Glaubenskampf und ein Sieg der Beharrlichkeit ist.“ (Nr. 2573) (…) Es ist die Nacht des Gebets, das mit Ausdauer und Beharrlichkeit von Gott den Segen und einen neuen Namen erbittet, eine neue Wirklichkeit, die Frucht der Bekehrung und der Vergebung ist. Jakobs Nacht an der Furt des Jabbok wird so für den Gläubigen zu einem Bezugspunkt, um die Beziehung zu Gott zu verstehen, die im Gebet ihren höchsten Ausdruck findet. Das Gebet verlangt Vertrauen, Nähe, gleichsam in einem sinnbildlichen Zweikampf nicht mit einem feindlichen, gegnerischen Gott, sondern mit einem segnenden Herrn, der stets geheimnisvoll bleibt und unerreichbar erscheint. Daher gebraucht der biblische Autor das Sinnbild des Ringens, das Mut, Beharrlichkeit, Ausdauer erfordert, um das zu erlangen, wonach man sich sehnt. Und wenn der Gegenstand der Sehnsucht die Beziehung zu Gott, sein Segen und seine Liebe sind, dann kann der Höhepunkt des Kampfes nur die Selbsthingabe an Gott sein (…). Liebe Brüder und Schwestern, unser ganzes Leben ist wie diese lange Nacht des Ringens und des Gebets, im Sehnen und im Gebet um einen Segen von Gott, den man nicht aus eigener Kraft an sich reißen oder gewinnen kann, sondern den man mit Demut von Gott empfangen muss, als unentgeltliches Geschenk, durch das man schließlich das Angesicht des Herrn erkennen kann. Und wenn das geschieht, dann ändert sich unsere ganze Wirklichkeit, dann empfangen wir einen neuen Namen und den Segen Gottes. Und mehr noch: Jakob, der einen neuen Namen empfängt, wird zu Israel und gibt auch dem Ort, an dem er mit Gott gerungen, zu ihm gebetet hat, einen neuen Namen: Er nennt ihn „Penuël“, was „Gottesgesicht“ bedeutet. Durch diesen Namen erkennt er an, dass der Ort von der Gegenwart des Herrn erfüllt ist (…). Er, der sich von Gott segnen lässt, liefert sich ihm aus, lässt sich von ihm verwandeln, schenkt der Welt den Segen. Der Herr helfe uns, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen (vgl. 1 Tim 6,12; 2 Tim 4,7) und in unserem Gebet um seinen Segen zu bitten, damit er uns erneuert in der Erwartung, sein Angesicht zu schauen.

Papst Benedikt XVI. in seiner Meditationsserie „Der betende Mensch“, gehalten während einer Generalaudienz auf dem Petersplatz am 25. Mai 2011. Vollständige Auslegung unter www.vatican.va © Copyright 2011 – Libreria Editrice Vaticana

 

»Jeder Coming-out-Prozess kann als ein Ringen um Respekt und Gottes Segen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften gesehen werden.«

Die Theologin Susannah Cornwall bezeichnet den Zweikampf als (homo-)erotisch. Die beiden Männer wälzen sich im Matsch und kämpfen körperlich miteinander. (…) Der Unbekannte bleibt geheimnisvoll und jenseits einer zuweisbaren Geschlechtsidentität oder Rollendefinition. Obwohl der Fremde als Mann eingeführt wird, wirkt er in seiner unbestimmten Erscheinung als ein Wesen jenseits dualistischer Geschlechterkategorien.

Auch in der que(e)ren Bibelauslegung wird der Unbekannte mit Gott identifiziert. Gott erscheint in dieser Szene allerdings nicht als der Abwesende, Distanzierte, ewig Unberührbare, wie er in theologischen Lehrsätzen oft dargestellt wird, sondern er tritt auf als der Nahbare. Gott wird körperlich spürbar und macht sich verletzlich, obwohl er gleichzeitig geheimnisvoll bleibt. Die Re-Lektüre zeigt einen Gott, der sich schmutzig macht, sich im Dreck wälzt und in körperlicher Weise einem anderen Mann begegnet. In der traditionellen Exegese wird Jakobs Kampf mit Gott am Jabbok unter anderem psychologisch als innerer Kampf gegen Schuld- und Schamgefühle ausgelegt; also als Reise nach innen, als Kampf gegen die eigenen dunklen Seiten, als Kampf gegen Gefühle von Wertlosigkeit und Verzagtheit. Dieser Prozess ist kein einfacher linearer Weg, sondern ein Prozess auf Leben und Tod; mit Unterbrechungen, Umwegen, Krisen, schweren Kämpfen und Bedrohungen. Und Jakob überlebt diesen Kampf.

Aus que(e)rer Perspektive kann auch jeder Coming-out-Prozess von Lesben und Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen als körperlicher, geistiger und seelischer Kampf um ein Leben in Würde und Anerkennung gesehen werden. Es ist ein Kampf mit genormten Werten in einem (hetero-)normativen Umfeld. Und es ist ein Ringen um Respekt und Gottes Segen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Vor diesem Hintergrund zeigt sich in dieser biblischen Geschichte ein Gott, der ganz anders ist. Er überschreitet Grenzen und zwingt auch Jakob Grenzen zu überschreiten. Dieser Gott ist nicht männlich, nicht weiblich. Er lässt sich körperlich berühren und berührt selbst. Dadurch sprengt er die dualistisch angeordneten Kategorien von Normalität und Abweichung, Körper und Geist, Subjekt und Objekt. Und als der Morgen anbricht, segnet Gott den Jakob.

Kerstin Söderblom ist evangelische Pfarrerin und Expertin für queere Bibellektüre. Der Text ist ein Ausschnitt aus einer längeren Auslegung auf evangelisch.de

Illustration: Patrick Schoden