Engagement

Tausende Kilometer für Kinder in Not

Als Kind lebt er in bitterer Armut, mit saufendem Vater und prügelndem Heimleiter. Als Erwachsener säuft er sich selbst fast zu Tode. Dann eine Art Erweckungserlebnis. John McGurk kriegt die Kurve und sammelt heute als Extremsportler Millionen für bedürftige Kinder

„Ich hatte jeden Grund, mein Leben aufzugeben“, sagt John McGurk. Heute lebt der 58-Jährige das, was als gutbürgerliches Leben gilt: Der ehemalige britische Soldat ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und ist gerade in eine neue Wohnung in der Nähe der Osnabrücker Innenstadt gezogen. Er arbeitet als Papiermacher, ist passionierter Sportler und freut sich, wenn eines seiner vielen Enkelkinder ihn besucht. Doch für dieses Leben hat John McGurk lange gekämpft. Er ist 1961 als drittes von acht Kindern in Glasgow geboren. Es waren schwierige Zeiten in der schottischen Großstadt: Eine hohe Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Alkohol- und Drogenkonsum und häusliche Gewalt prägen McGurks Kindheit. Es fehlt an Nahrung. Als Kind ist McGurk unterernährt und erkrankt zweimal an der Ruhr. „Ich bin in der schwersten Armut geboren, die man sich in Europa vorstellen kann“, sagt er. „Ich bin nur selten zur Schule gegangen, weil ich einfach keine Klamotten hatte.“ Sein Vater ist arbeitslos, betrinkt sich regelmäßig, schlägt seine Frau und vernachlässigt die Kinder.

Fürchterliches Geschrei, als die Geschwister auseinandergerissen werden

Als die Mutter die Familie verlässt und nach Irland flüchtet, werden die Kinder in Heimen untergebracht. Die Beamten der Stadt reißen die Geschwister auseinander. „Wir haben uns aneinandergeklammert. Das war ein fürchterliches Geschrei, als sie kamen, uns abzuholen. Wenn ich die Augen schließe, höre ich das Geschrei, als wäre es gestern gewesen“, sagt McGurk.

John McGurk kommt in ein Kinderheim an der schottischen Grenze. „Ich kannte in meinem Leben nur Demütigung und Gewalt. Ich dachte, alle Erwachsenen sind gleich. Trotzdem habe ich immer nach Liebe, Geborgenheit und Sicherheit gesucht. Ich war mir sicher, dass ich das nun, in diesem Kinderheim finden würde“, sagt er. Doch er irrt sich.

Als McGurk, der damals elf oder zwölf Jahre alt ist, träumt, dass seine Mutter gestorben ist, sucht er weinend und verwirrt Hilfe beim Heimleiter. Der ist zwar streng, hat ihn schon oft angeschrien und ein paarmal geschubst, aber an wen sollte er sich sonst in seiner Not wenden? Er findet den Mann beim gemütlichen Abendgespräch mit Gästen. Der Heimleiter legt ihm eine Hand auf die Schulter und will ihn zurück in sein Zimmer führen. „Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich diese Geborgenheit gespürt, die ich immer gesucht habe. Ich habe gedacht: So schlimm ist der doch gar nicht“, erinnert sich McGurk.

Doch im Zimmer schleudert der Mann den Jungen mit voller Wucht gegen eine Wand. Ohne Unterlass tritt er auf das am Boden liegende Kind ein. Erst als John nicht mehr schreit und weint und dem Heimleiter direkt in die Augen blickt, zuckt der zurück. „Er war wie im Rausch, als er mich verprügelte. Er merkte gar nicht, was er tat“, sagt McGurk. „In diesem Heim endete meine Kindheit. Es ist schlimmer gekommen, als ich es mir je vorstellen konnte.“

Auch in der Schule wird er gedemütigt, bespuckt und geschlagen. In seiner Schuluniform ist er für alle Kinder und Lehrer als Heimkind erkennbar. Und immer wieder geben sie ihm zu spüren: Du bist nichts wert. Du kommst aus dem Ghetto, du bist Dreck. Manchmal teilt er aus, öfter muss er einstecken. Aber irgendwie überlebt er diese schlimme Zeit: „Ich hatte schon als Junge die Stärke, immer aufzustehen und weiterzukämpfen“.

John McGurk kann heute offen über seine schlimme Kindheit sprechen. Seine Vergangenheit ist längst kein Geheimnis mehr. Schon oft hat er Interviews gegeben, gerade erst ein Buch veröffentlicht. Einzig an der Bewegung seiner Finger merkt man, dass das Erlebte nach wie vor auf ihm lastet: Sie gleiten rastlos durch eine Zeitschrift, wenn er von der brutalen Gewalt in dem Kinderheim erzählt.

Als junger Soldat kommt John McGurk nach Osnabrück. Er heiratet früh, doch die Ehe scheitert. „Es gab Differenzen und ich war dem Alkohol verfallen. Irgendwo saß da doch dieser Schmerz in mir, den ich betäuben wollte“, sagt McGurk. Die Scheidung ist für ihn ein weiterer Rückschlag. „Ich habe gedacht, es hört nie auf: Du bist geboren, um zu leiden.“

In dieser Zeit trinkt er flaschenweise Scotch. „Ich wollte mein Leid einfach zu Ende trinken“, sagt er. Bis er an einem Abend seinen Tiefpunkt erreicht: Auf dem Boden seines Badezimmers erbricht er sich und spuckt Blut. „Ich lag in meinem Blut auf dem Boden, da schoss mir dieses Bild in den Kopf, wie ich als kleiner Junge im Heim auch in meinem Blut lag. Das war ein richtiges Deja-vu. Ich dachte: Johnny, das gibt es doch gar nicht. Wann hört das endlich auf?“

Im Traum erscheint ihm eine Frau: „Für mich war das Mutter Maria“

Er schläft benommen auf dem Fußboden ein und träumt: „Der Himmel öffnete sich vor mir, eine Heerschar von Engeln kam auf mich zu. Eine Frau ging voran. Für mich war das Mutter Maria“, erzählt McGurk. Dabei passte dieser Traum gar nicht zu ihm: Mit Gott und der Kirche kann er nichts anfangen. Nach allem, was er erlebt hat, kann er nicht an die drei „Gs“, wie er es nennt, glauben: das Gute im Menschen, die Gesellschaft und den lieben Gott. Aber der Traum lässt ihn nicht mehr los: „Maria sprach im Traum zu mir und sagte: ‚John, Gott gab dir ein großes Herz. Gott hat Großes mit dir vor.‘“

Als er aufwacht, spürt er eine tiefe Zufriedenheit und Ruhe – und er krempelt sein Leben um. Er lässt sein Magengeschwür behandeln, das in der Nacht geplatzt ist, er hört auf zu rauchen und zu trinken und lernt seine heutige Frau kennen, mit der er mittlerweile seit fast 30 Jahren zusammen ist. „Das Leben kann brutal sein, es kann dich in die Knie zwingen. Aber man muss bereit sein, aufzustehen“, sagt McGurk. Er will der Gesellschaft zeigen, dass er es schaffen kann: „Nur weil man mit nichts geboren worden ist, heißt das nicht, dass du nichts bist.“ Der Kämpfer in ihm ist zurück.

„Ich habe immer darüber nachgedacht, was Gott mit mir vorhaben könnte: Was kann ich als Ausländer in Deutschland mit null Status und null Geld schon bewegen?“ Er erkennt: „Das Einzige, was ich habe, ist mein Körper“. Er beginnt mit dem Lauftraining – und hört nicht mehr auf. In den vergangenen 27 Jahren hat er mehrere Tausend Kilometer zurückgelegt, oft im traditionellen schottischen Kilt, der zu seinem Markenzeichen geworden ist. Er läuft und sammelt Spenden für Kinder, die in Armut leben oder traumatisiert sind. „Vielleicht war das mein Los, dass ich leiden musste, um anderen zu helfen“, sagt McGurk nachdenklich.

Seine ganze Freizeit opfert er für sein Engagement. Im Januar will er in der Arktis laufen, 70 Kilometer bei -40 Grad. Außerdem will er helfen, die Identität von mehr als 1500 Kinderleichen aufzuklären, die in zwei Massengräbern in Schottland und Irland gefunden wurden. „Als gläubiger Christ kann ich es nicht hinnehmen, dass sich keiner dafür interessiert“, sagt McGurk. Er will zu den ehemaligen Heimen für alleinstehende Mütter laufen, auf das Unrecht aufmerksam machen und so Spenden für eine Gedenktafel sammeln.

„Der Satz von Mutter Maria ist der Grund, warum ich das alles geschafft habe, was ich bis heute getan habe“, sagt McGurk. „Aber meine Aufgabe hier ist längst noch nicht fertig. Ich werde so lange laufen und für Kinder kämpfen, wie ich es kann.“

Text: Kerstin Ostendorf
Foto: Hermann Pentermann

 

Aufstehen, Kilt richten, weiterkämpfen
John McGurk und sein Verein „Sportler 4 a childrens world e.V.“ haben durch Benefizläufe bislang mehr als 1,5 Millionen Euro für notleidende Kinder gesammelt. Unterstützt werden Projekte national und international. Für sein Engagement wurde John McGurk unter anderem das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Mehr Infos: www.s4acw.de

Seine Geschichte hat der Schotte auch als Buch vorgestellt: John McGurk: Aufstehen, Kilt richten, weiterkämpfen. SCM Hänssler, Hardcover 19,99 Euro, E-Book 16,99 Euro

leben mit anderen augen sehen? zoé lesen!