Pilgern
Gemeinsam auf dem Weg
Alleine pilgern – ok. Aber mit Schülerinnen und Schülern? Julian Voß findet das großartig. Auch weil er die Jugendlichen intensiver kennenlernen kann. Nicht in ihrer Rolle als Schülerin oder Schüler, sondern als Person
„Könntest du dir vorstellen, mit mir und ein paar Schülern der Einführungsphase pilgern zu gehen?“ Steph Blankenstein, Religionslehrerin an meiner Ausbildungsschule, der Canisiusschule in Ahaus, steht mit mir in der Fünf-Minuten-Pause auf dem Flur. So überraschend dieser Vorschlag vor ziemlich genau vier Jahren kam, so schnell sagte ich zu. Ohne zu erahnen, welche Bereicherung Pilgern für mich sein würde. Denn bis dahin hatte ich keine Berührungspunkte damit. Eher fußfaul und damals mit ein paar Kilo zu viel auf den Rippen war mir natürlich Hape Kerkelings Camino-Bestseller bekannt und mir war klar, dass viele Menschen das Pilgern für sich neu entdeckt haben. Aber mit Schülerinnen und Schülern? Wenn doch vermeintlich immer weniger von ihnen bereit sind, sich mit religiösen Fragen auseinanderzusetzen?
Mit jeder Zecke und jeder Blase intensivierte sich die Gemeinschaft
In der Tat war es zunächst nicht einfach, Schüler zu überzeugen, ihr Bett gegen eine Isomatte auf dem Boden und ihr Zimmer gegen einen Versammlungsraum in einem westfälischen Pfarrheim einzutauschen. Dennoch machten wir uns schließlich mit elf Schülerinnen und Schülern auf den Weg. Schnell zeigte sich, dass gerade der Verzicht auf Komfort und Gemütlichkeit den besonderen Reiz der Pilgertage ausmacht. Für mich als werdenden Lehrer war es eine gute Erfahrung, meine Schüler von einer anderen Seite kennenzulernen. Und auch sie konnten sich ein neues Bild von mir machen – abseits von Lerninhalten, Unterrichtsbesuch und Noten. Schnell formierte sich aus einer Gruppe von Jugendlichen eines Jahrgangs eine Pilgergemeinschaft, die sich mit jedem durchschwitzten T-Shirt, jeder beißenden Zecke und jeder neuen Blase am Fuß intensivierte. Noch Monate später wurden Steph und ich auf die Erlebnisse angesprochen, auch mit der Bitte, erneut mit derselben Gruppe pilgern zu gehen. Inhaltlich fasste es eine Schülerin schön zusammen: „Es war jetzt nicht so, dass wir den Rosenkranz gebetet hätten oder so, sondern wir konnten unsere Wünsche und Vorstellungen im Gebet aussprechen.“
Bald hieß es auch an meiner neuen Schule, dem Franziskusgymnasium in Lingen: „Wanderschuhe schnüren, Rucksack auf und los“. Dass dies auch hier funktioniert, verdanke ich meiner lieben Kollegin Maike Kühlenborg. Im Gegensatz zu den bei uns obligatorischen Tagen religiöser Orientierung in einem Bildungshaus in Jahrgang neun ist das Pilgern ein freiwilliges Angebot für den elften Jahrgang. Wir sind von Donnerstag bis Samstag unterwegs. Die Jugendlichen werden dafür vom Unterricht befreit.
Wir haben natürlich Glück: Der Hümmlinger Pilgerweg und die Jugendbildungsstätte Marstall Clemenswerth bieten ideale Rahmenbedingungen, um mit einer Schülergruppe im Emsland pilgern gehen zu können. Gleichsam vor der Haustür. Morgens geht es vom Marstall los, nachmittags werden wir vom Zielort per Bus abgeholt. Das letzte Mal waren wir mit 18 Jugendlichen unterwegs.
Auf den verschiedenen Etappen sind Impulse und Gedanken auf den für die Region typischen Findlingen zu finden. Vereinzelt nutzen wir bei unseren Pilgertouren diese Punkte, um die Schülerinnen und Schüler einzuladen, sich über sich selbst, ihre Beziehung zu anderen Menschen oder zu Gott Gedanken zu machen. Oder um ins Gespräch zu kommen. So haben wir etwa eine kleine Karte mit Impulsfragen verteilt, eine kurzes Gebet gesprochen oder eine Bibelstelle gelesen. Ein fester Ablauf, wie er etwa bei Tagen religiöser Orientierung nötig ist, fehlt bewusst.
Wer von den Jugendlichen sich wirklich mit den Impulsen näher beschäftigt, vielleicht betet, weiß ich natürlich nicht – und das ist ja auch gut so. Aber dass wir etwas auslösen, merken wir in jedem Fall. Einmal hatten wir eine kurze Teilstrecke schweigend mit der Bitte „Hört mal auf euch selbst“ zurückgelegt. Nach einiger Zeit begann ein Mädchen zu weinen – die Trauer um den verstorbenen Großvater brach hervor. Natürlich wird so etwas in irgendeiner Form thematisiert.
Bin genauso Pilger wie meine Schülerinnen und Schüler
Vielleicht ist es genau das, was für mich das Pilgern mit Schülergruppen so attraktiv macht und dazu führen kann, dass ich die Jugendlichen ganz anders kennenlerne. Nicht in der Rolle der Schülerin oder des Schülers, sondern als Person. Das Gleiche gilt natürlich auch für meine Kollegin. Wenn es eine Möglichkeit gibt, über Persönliches, vielleicht auch den Glauben zu sprechen, dann hier. Denn es geht nicht darum, konkrete Ergebnisse zu erreichen, sondern selbst ganz ungezwungen auf dem Weg zu sein. Deshalb ist ein Fußmarsch von mehr als 20 Kilometern am Tag auf seine besondere Weise Erholung für mich und das Pilgern keine zusätzliche Belastung.
Wenn ich durch die Felder und Wiesen des Hümmlings gehe, kommt mir immer wieder der Vers aus Psalm 18 in den Sinn: „Du führst mich hinaus ins Weite“. In diesen Momenten spüre ich, dass ich mit meinen Gedanken und meinen Fragen genauso Pilger bin wie meine Schülerinnen und Schüler. Lebt mein Beruf ansonsten davon, dass ich im Unterricht meinen Klassen immer schon ein paar Schritte voraus bin, sind wir hier wirklich gemeinsam auf dem Weg.
Text: Julian Voss
Julian Voß (29 Jahre) ist Lehrer für Deutsch und Katholische Religion am Franziskusgymnasium Lingen

Entlang spiritueller Orte
Der Hümmlinger Pilgerweg führt durch abwechslungsreiche Natur entlang zahlreicher spiritueller Orte. Als Rundwanderweg umfasst er fünf Etappen, die etwa das sogenannte Pestkreuz in Spahnharenstätte, die Gedenkstätte Konzentrationslager Esterwegen oder die Weidenkirche in Börger als Stationen haben. Die Etappen sind elf bis 28 Kilometer lang. Die Strecke ist ausgeschildert, Stationen sind mit dem Logo des Pilgerwegs gekennzeichnet. Infos unter www.huemmlinger-pilgerweg.de