Titelthema: 22 Fragen

"Unser Schulsystem zwingt zur frühen Selektion"

23 Jahre lang leitete Susanne Thurn die Laborschule Bielefeld – eine international anerkannte Versuchsschule des Landes NRW. Eine Schule, in der elf Jahre gemeinsam gelernt wird, ohne Noten bis Jahrgang Neun. Ein Gespräch über Bildungsgerechtigkeit

23 Jahre lang leitete Susanne Thurn die Laborschule Bielefeld – eine international anerkannte Versuchsschule des Landes NRW. Eine Schule, in der elf Jahre gemeinsam gelernt wird, ohne Noten bis Jahrgang Neun. Ein Gespräch über Bildungsgerechtigkeit

1 Was lässt Kinder wachsen?

Nichts ist so motivierend wie Erfolg. An Erfolgserlebnissen erfahren Kinder Selbstwirksamkeit und können daran wachsen. Aber mit was ein Kind Erfolg hat, ist bei jedem anders.

2 Erklären Sie das bitte genauer.

Die beste Schule ist die, aus der jedes Kind jeden Tag drei Dinge mit nach Hause nehmen kann: „Ich kann’s“ – „ich gehöre dazu“ – „ich werde gehört“. An solchem Erleben wachsen alle Menschen: die kleinen wie die großen.

3 Worin liegt die Besonderheit der Laborschule?

Der Hauptgedanke bei der Gründung war: nie wieder 1933. Nie wieder sollten Menschen dazu erzogen werden, dass sie so etwas geschehen lassen. Dazu gehört auch, niemanden auszuschließen. Die Laborschule ist eine Schule für ausnahmslos alle Kinder und zwar in etwa der sozialen Zusammensetzung, wie sie in der Gesellschaft vorkommen.

4 Wie gelingt es Ihnen, dieses Abbild der Gesellschaft herzustellen?

Bei der Schulanmeldung dürfen wir als Forschungseinrichtung nach dem höchsten Bildungsabschluss der Eltern und ihrem Migrationshintergrund fragen. Neben vielen Nationalitäten haben wir auch rund zehn Prozent Kinder mit so genanntem „sonderpädagogischem Förderbedarf“. Kinder mit verschiedenen Behinderungen lernen zusammen mit solchen, die hohe Begabungen und gute Förderung von zuhause mitbringen.

5 Wie würden Sie den Umgang mit dieser Verschiedenheit an Ihrer Schule beschreiben?

Völlig natürlich, human, christlich. Dazu das Beispiel eines Jungen mit schwerster Muskeldystrophie. Er liegt überwiegend, kann nur noch Finger bewegen, mühsam sprechen, über seine Augen einen Computer steuern und somit im Unterricht mitmachen. Er sieht entstellt aus. Ich erlebe, wie ein pubertierender Junge sich über ihn beugt, mit ihm redet, ganz nebenbei ein Windeltuch nimmt und ihm die Spucke abwischt – ohne irgendein Aufsehen. So ein selbstverständliches Annehmen des Anderen muss man früh lernen.

6 Wie gestalten Sie den Unterricht?

Unsere Schule hat von den Fünfjährigen in Jahrgang Null bis Ende Jahrgang Zehn einen einheitlich gedachten Bildungsgang. Die klassischen Unterrichtsfächer sind durchgehend in fünf Erfahrungsbereichen zusammengefasst.

7 Was bedeutet das konkret?

Ich unterrichte etwa „Umgang von Menschen mit Menschen“, bin aber Historikerin. Ich muss mir mit den Fachkollegen die Themen aus verschiedenen Blickwinkeln selbst erarbeiten. Dadurch können wir in Sinnzusammenhängen lehren und lernen, zudem mehr Zeit mit einer Lerngruppe verbringen. Wenn ich von meinen Schülerinnen das Bestmögliche erwarte, muss ich sie gut kennen.

8 Wie sieht der Unterricht konkret aus?

Nehmen wir das Thema „Was ist das Glück?“. Wir könnten „Hans im Glück“ lesen. Die Lehrkraft hätte Aufgaben vorbereitet, etwa „Schreibe einen Liebesbrief von Hans an Liese, der ihr erzählt, was er erlebt hat “ oder „Spielt ein Theaterstück: Hans kommt nach Hause, wie reagiert seine Mutter?“ Die Kinder erfinden auch eigene Aufgaben. Alle arbeiten dann an selbst gewählten Zugängen zum Inhalt und präsentieren ihre Ergebnisse den anderen.

9 Und am Ende droht ein Referate-Marathon?

Nein, es werden Portfolios erstellt. Zu einem Thema haben beispielsweise alle die gleichen Leitfragen, die es zu erarbeiten gibt. Ihre Kerngedanken präsentieren sie der Klasse, möglichst vielfältig und kurzweilig. Am Ende reflektieren sie zunächst selbst ihr Portfolio, danach tut dies ein anderer der Gruppe nach vereinbarten Kriterien und erst dann die Lehrkraft.

10 Wird bei solch offenen Formaten genug gelernt?

Schülerinnen und Schüler, die nach Jahrgang Zehn ans Gymnasium wechseln, melden uns zurück: Unsere Mitschüler wissen manchmal mehr. Aber wir können mehr, weil wir uns in kurzer Zeit das nötige Wissen selbst aneignen können.

11 Worin liegt für Sie der Vorteil des längeren gemeinsamen Lernens?

Es ermöglicht zum Beispiel unvorhersehbare Sprünge – etwa in der Pubertät – wenn Kinder nicht entmutigt wurden durch Misserfolge, schlechte Noten, Sitzenbleiben, Abschulung.

Foto: Andreas Kühlken

12 Eine Kritik lautet, Laborschüler könnten brillant diskutieren, aber nicht auf den Punkt kommen.

Ja, der Spruch lautet: „Das ist die Laberschule“. Tatsächlich können sich unsere Schüler gut artikulieren und haben ein hohes Selbstwertgefühl. Bei den Abschlussjahrgängen nach der Zehn sind unsere Schüler hier deutlich weiter als andere. Aber auch bei den Abiturnoten sind sie erfolgreich und im sozialen Durchschnitt besser.

13 Was kritisieren Sie an unserem Regelschulsystem?

Unser in der Welt einmaliges gegliedertes Schulsystem zwingt zur frühen Selektion. Es zielt darauf, die Verschiedenheit der Kinder in Schultypen zu homogenisieren.

14 Wo sehen Sie das Problem?

Die Vorstellung, vorne steht ein Lehrer und erklärt allen Kindern einheitlich etwas, ist absurd. Schwächere Kinder überfordere ich, andere langweilen sich. Sind sie geschickt, leisten sie nur das, was das System verlangt, aber nicht das, was sie leisten könnten. Da wir schon so früh sortieren, müssten wir bei den PISA-Studien wenigstens in der Leistungsspitze bestens vertreten sein, was aber keineswegs der Fall ist.

15 Viele Lehrer unterrichten doch binnendifferenziert.

Das ehrt sie auch. Aber keine Lehrkraft kann auf Dauer für jedes Thema viele verschiedene Arbeitsblätter vorbereiten, um allen gleichermaßen gerecht zu werden.

16 Die Laborschule vergibt keine klassischen Noten. Warum nicht?

Das Hauptproblem ist der ständige Vergleich. Einem Kind, das sich bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten angestrengt hat, kann ich doch nicht eine Vier oder eine Fünf geben, weil es im Vergleich zu anderen schlechter abschneidet. Ein Kind, das nie mehr als eine Vier auf dem Zeugnis bekommt, hat oft ein Selbstwertgefühl von „Ich bin nur ein ausreichender Mensch“. Die Shell-Studien belegen das.

17 Sind Ihre Schülerinnen und Schüler auch ohne Noten motiviert?

Sie denken einfach ganz anders darüber. Dazu eine hinreißende Szene: Ein Fünftklässler vom Gymnasium hospitierte bei uns. In Mathematik fragte er ein Mädchen: „Warum strengst du dich so an. Da vorne liegen doch die Lösungsblätter.“ Sie daraufhin völlig ernst: „Ja, du musst dir vorher überlegen: Möchtest du heute rechnen lernen oder abschreiben üben?“

18 Wie sieht Ihre Bewertung aus?

Bei unseren schriftlichen Rückmeldungen kann ich sagen: „Diesen Schritt hast du gemacht. Nun solltest du…“ Einem hoch veranlagten Kind, das an einer Regelschule eine „Eins“ bekommen hätte, kann ich sagen: „Für dich war das nicht genug, du kannst viel mehr.“

19 Worin sehen Sie den Vorteil Ihrer Bewertung?

Klassische Noten sind nur summative Rückmeldungen am Abschluss eines Schuljahres. Wir geben dagegen formative Leistungsrückmeldungen im Lernprozess – was übrigens nach internationalen Studien wie der von Hattie besonders lernwirksam ist.

20 Warum ist das so wichtig?

Als Christin finde ich schwer aushaltbar, wie Kinder in Schulen entmutigt, selektiert, gedemütigt oder mit Stempeln wie „sonderpädagogischer Förderbedarf“ versehen werden, statt alle Kinder so anzunehmen, wie sie sind.

21 Inwiefern?

Die Kirchen sollten nur Schulen für alle Kinder fördern und ihre Verschiedenheit als ihren Reichtum ansehen. Das wäre in meinem Sinne wahrhaft christlich.

22 Wenn Sie so überzeugt sind: Warum setzt sich Ihr Schulmodell nicht durch?

So viel vorweg: Was wir wollen, gelingt uns auch nicht immer. Aber die Richtung stimmt. Viele Schulen arbeiten schon ähnlich. Schulentwicklung ist aber sehr langsam. Es scheint schwer vorstellbar, dass Schule anders funktionieren kann als die, die jeder selbst kennengelernt hat.

Interview: Rainer Middelberg
Fotos: Andreas Kühlken

23 Jahre Leiterin der Laborschule

Susanne Thurn, geb. 1947, ist Geschichtsdidaktikerin. Sie kam 1978 an die Laborschule in Bielefeld und leitete sie von 1990 bis 2013. Bis heute bildet sie Lehrkräfte aus und weiter und berät Schulen. Die Laborschule wurde 1974 als Versuchsschule des Landes NRW an der Universität Bielefeld nach Ideen des Pädagogen Hartmut von Hentig gegründet. Jedes Jahr besuchen rund 2.000 Pädagogen, Politiker und andere Gäste die Schule.

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