Titelthema: 22 Fragen
"Unser Schulsystem zwingt zur frühen Selektion"
Fast wäre er Religionslehrer geworden, entschied sich dann aber für den Beruf des Kommunikationsberaters. Als Wahlkampfprofi arbeitet Erik Flügge heute unter anderem für die SPD. Etablierte Parteien nimmt er in Schutz: Sie hätten eine Aversion gegen Lügen
1 Was treibt sie in die Kirche?
Das ist wie vermutlich bei allen: biografische Prägung, Gewohnheit und Vertrauen auf die Botschaft. Ich habe eine komplett zweifelsfreie Verbindung zur Kirche. Nicht zu allem, was sie sagt, aber zu dem, was sie sagen soll.
2 Sie sind ein Kritiker kirchlicher Kommunikation. Nennen Sie bitte ein Beispiel für Ihren Unmut.
Nehmen wir die Aktion des Erzbistums Köln mit den aufgeklebten Fußabdrücken „Jesus to go“ vor dem Kölner Dom. Ich folgte den Fußabdrücken bis zu einem Automaten auf dem stand: „Kirche geht nicht automatisch.“ Also: Ich war einer englischsprachigen „Jesus-to-go“-Botschaft gefolgt, kam an einen Automaten und bekam eine ablehnende Botschaft.
3 Und dann?
Aus dem Automaten fiel ein kleines Kästchen. Auf dem stand „Dies ist nicht mein Leib“ und in einem kleinen Fenster war eine Hostie. Das Kästchen war leer. Da muss man schon viele Semester Theologie studiert haben, um zu verstehen, dass man zu Jesus geht, dass das nicht automatisch geht, er in der Gemeinschaft zu finden ist und Brot nicht Leib Christi ist, sofern es keine konsekrierte Hostie ist. Diesen Fußabdrücken zu folgen – was soll das anderes auslösen als Frustration?
4 Wie soll es besser werden?
Wir müssen schon an den Universitäten interdisziplinär mit Menschen arbeiten, die mit Kirchensprache nichts anfangen können. Schon hier brauche ich einen nicht rein theologischen Kommunikationsraum, in dem Menschen theologisches Kommunizieren lernen. Dafür haben wir an der Ruhruniversität Bochum einen theologischen Studiengang Crossmediale Glaubenskommunikation gegründet, in dem die Dozierenden zu einem großen Teil nicht aus der Theologie, sondern aus Kommunikationswissenschaft und Religionssoziologie kommen. Das theologische Fundament unterrichten natürlich Theologen.
5 Wie sieht es aber in den Gemeinden aus?
Jeder, der vor der Gemeinde spricht, sollte sich drei oder vier Personen suchen und sagen: „Sag mir ehrlich, wie du meine Predigt findest.“ Das mache ich selbst auch bei meinen Texten. Es tut weh, wenn gute Freunde die eigenen Texte verreißen, aber sie werden besser.
6 Theologische Begriffe und liturgische Formeln lassen sich aber nicht alle einfach übersetzen.
Wenn sich unser Sprechen auf Gott richtet, zum Beispiel beim Hochgebet, darf es besonders sein. Wenn es sich an Menschen richtet, muss es allgemeinverständlich sein. Das wäre für mich auch die Trennung zwischen der Lesung des Wortes Gottes und der Predigt.
7 Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Fach Religion?
Es bietet große Chancen. Ich verstehe aber auch, wenn Lehrkräfte daran verzweifeln, dass sie die Brücke zu einer Institution schlagen müssen, die von der Alltagssprache der Jugendlichen weit weg ist.
8 Wie meinen Sie das?
Der alte Modus war: Von Kindesbeinen an geht man mit Mutter und Vater in den Gottesdienst und lernt Kirche kennen. Das ist aber nur noch selten. Damit fehlt dieser Erstkontakt. Der erfolgt zumeist medial vermittelt.
9 Worauf wollen Sie hinaus?
Im Fernsehen sind Bischöfe mit komischen Klamotten zu sehen und Wort-Zum-Sonntag-Sprecher, die vor einem seltsamen Hintergrund in einem ganz besonderen Tonfall reden. Das ist einfach fremd.
10 Worin sehen Sie das Hauptproblem für Jugendliche vor Ort?
Viele Kinder und Jugendliche erleben in einem Schulgottesdienst, zur Kommunion oder Konfirmation zum ersten Mal einen Gottesdienst. Für sie und viele Eltern ist das total schräg.
11 Noch einmal zum Religionsunterricht. Was muss der Ihrer Meinung nach leisten?
Guter Religionsunterricht leistet Teilhabe an gesellschaftlichem Wissen. Wenn ich Religiosität und Kulturepochen verstehen will, muss ich begreifen, was religiöses Denken ist. Schülerinnen und Schüler müssen nachempfinden, was das bedeutet, wenn für Menschen Religion Wahrheit ist.

12 Warum ist das so wichtig?
Nach der aktuellen Shell-Jugendstudie sind mehr als 50 Prozent der Jugendlichen nicht mehr gläubig. Sie können einen großen Teil von Gesellschaft nicht verstehen. Einfachstes Beispiel ist Winfried Kretschmann. Er begründet seine Politik aus seinem katholischen Glauben. Wenn ich nie verstehe, was das bedeutet, dann kann ich einen Ministerpräsidenten, der politisch über mein Leben mitentscheidet, nicht verstehen.
13 Wie soll diese Erkenntnis gelingen?
Erste Erfahrungen mit dem Religiösen sind im Klassenraum extrem schwer herzustellen. Guter Religionsunterricht sucht sich dafür andere Orte. Das kann Taizé sein, ein Kloster oder ein Kirchort. Wichtig ist, dass Lehrer das für die Schüler einordnen und ihnen zeigen, was es heißt, zu glauben.
14 Was folgt daraus für Lehrkräfte?
Das ist ein ganz fieses Thema. Wenn ich als Religionslehrer die Frage nach meinem eigenen Glauben mit Nein beantworte, schlage ich ganz viele Türen für Jugendliche zu. Da bin ich als Lehrer in einer Wahrhaftigkeitsfalle oder Beauftragungsfalle. Andererseits ist erfundene Religiosität schwierig. Schüler checken ja, wenn das Gegenüber nicht selber glaubt.
15 Warum sind Sie selbst nicht Religionslehrer geworden?
Ich habe in Baden-Württemberg studiert. Dort macht man ein Viertel des Referendariats während des Studiums. Das Unterrichten machte mir viel Spaß. Aber das Korsett der Institution Schule, die ja auch etwas Behördenhaftes hat, ist nichts für eine chronisch antiautoritäre und kreative Persönlichkeit wie mich.
16 Worin liegt der zentrale Unterschied zwischen politischer und religiöser Kommunikation?
Die politische Kommunikation will überzeugen, dass eine bestimmte Option besser ist als die andere: „Wir wollen das. Die wollen das. Entscheidet euch lieber für uns.“ Religion hat den Anspruch, Wahrheit zu vermitteln, die sie nicht beweisen kann.
17 In der Politik wird nicht immer die Wahrheit gesagt. Wie ist das für Sie als Wahlkampforganisator?
Die etablierten Parteien haben bis heute eine Aversion gegen das Lügen. In einer Talkshow werden Sie nicht hören „Das stimmt so nicht.“, sondern „Das ist viel zu einfach“. Man spürt, dass es um die Auswahl der für die Partei wichtigen Fakten geht. Es wird nur Wahrheit gedehnt und verkürzt.
18 Der Vorwurf der Lüge in der Politik nimmt aber zu.
Nach meinem Erleben ist die Lüge fast ausschließliches Phänomen populistischer Akteure. Sie fälschen Fakten, Statistiken und Bilder. Mit der AfD haben wir zum ersten Mal seit der Entstehung der Bundesrepublik eine populistische Partei im Bundestag, die häufig mit Informationen agiert, die unwahr sind.
19 Auch früher haben Populisten die Wahrheit verdreht. Was ist jetzt anders?
Früher sind Politiker, die gelogen haben, durchgefallen. Jetzt gewinnen sie Wahlen. Das beste Beispiel ist der berühmte Bus in der Brexit-Auseinandersetzung. Man behauptete, dass all das Geld, das jetzt an die EU gezahlt wird, in Zukunft ins Gesundheitssystem ginge. Das war Quatsch und alle Beteiligten wussten das. Selbst Nigel Farrage hat es einen Tag nach der Brexit-Abstimmung zugegeben.
20 Zum Abschluss die Frage nach drei Vorbildern: Wer ist sprachlich für Sie ein Vorbild?
Helmut Schmidt hatte ein ausnehmend großes Talent, die komplexesten Dinge für sehr wenig gebildete Menschen zu erklären.
21 Wer ist für Sie ein politisches Vorbild?
Politisch schätze ich Lars Klingbeil sehr, weil er Dinge durchdacht tut und extrem loyal sein kann. Auch die Kanzlerin ist eine hochspannende Persönlichkeit. Sie handelt besonnen und bleibt bescheiden.
22 Und wer ist für Sie ein Vorbild im Bereich der Religion?
Da denke ich an Meister Eckhart. Weil er als Mystiker von der Inquisition beäugt wurde, suchte er sich immer schräge Bibelstellen, mit denen er seine eigenen Gedanken präsentieren konnte. So spielte er mit den Regeln seiner Zeit.
Interview: Rainer Middelberg
Fotos: Andreas Kühlken
„SPD ist Currywurst“
Erik Flügge (34) ist Politikberater, Wahlkampfprofi und Beteiligungsexperte. Der Germanist und Politikwissenschaftler hat unter anderem drei Jahre katholische Theologie studiert. Mit Oliver Zeisberger ist er Geschäftsführer einer Kommunikationsagentur. Kennengelernt haben sie sich bei einem Plakatwettbewerb für den Landtagswahlkampf 2012 für Hannelore Kraft. Zeisberger als Organisator und Flügge als Gewinner mit dem Slogan „SPD ist Currywurst“. Zum Bestseller wurde 2016 sein Buch „Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“.