Mein Einsatz
In der Stille entstehen mehr Bilder im Kopf
Zuhören und einfach da sein – bei Einsamkeit, täglichen Sorgen oder sogar beim Suizid. Unsere Autorin arbeitet seit mehr als 20 Jahren bei der Telefonseelsorge Emsland / Grafschaft Bentheim
Gut 20 Minuten dauerte es, bis seine Stimme brach. Mir kamen sie wie zwei quälend lange Stunden vor. Er habe einen Tablettencocktail genommen und ich solle ihm bitte die Hand halten. Ich sagte: „Ich halte Ihre Hand.“ – Es war das Gespräch mit jemandem, der Abschied nimmt. Er wollte keine Hilfe, sondern nur sterben. Das Telefonat ging mir lange nach. Ich glaube, dass dieser Mann wirklich gestorben ist. Gesehen habe ich ihn nicht. Nur seine Stimme gehört.
Seit über 20 Jahren arbeite ich bei der Telefonseelsorge. Ich hatte meine an Krebs erkrankte Mutter begleitet und gemerkt, wie wichtig es für einen Kranken ist, dass jemand einfach nur zuhört. Gut gemeinte Ratschläge waren oft nicht willkommen, das Mitaushalten von Ängsten jedoch sehr. Schlichtes Dasein konnte neuen Lebensmut vermitteln. Diese Erfahrung mache ich auch bei der Telefonseelsorge.
„Wer bin ich, den anderen verändern zu wollen, ihn be- oder verurteilen zu wollen?“
Für diese Aufgabe werden alle Mitarbeitenden speziell ausgebildet. Die hohe Sensibilität der Ausbilder machte mir Mut, mich zu öffnen. Lebenserfahrungen, die Verletzungen hinterlassen hatten, erschienen in anderem Licht. Vieles lernte ich aufzuarbeiten. Ich wurde ein freierer Mensch und erkannte: Wer bin ich, den anderen verändern zu wollen, ihn be- oder verurteilen zu wollen? Das muss ich mir stets in Erinnerung rufen. Kürzlich meinte ein Anrufer, Gott habe uns das Coronavirus als Strafe geschickt. Ich selbst bin der festen Überzeugung, dass Gott uns den freien Willen geschenkt hat. Dennoch darf ich in so einer Situation nicht werten und nicht missionieren. Auch wenn es mir schwer- fällt und ich die Sicht eines Anrufers nicht teile, muss ich sie respektieren.
Probleme bei Anrufen besprechen wir einmal im Monat bei der Supervision in einer geschützten Gruppe. Aus der dringt nichts nach außen. Diese Termine sind Sternstunden, sie sind Hilfe und Entlastung, ohne die diese Tätigkeit nicht leistbar wäre. Mit großer Wertschätzung – aber trotzdem deutlich – wurden mir zum Beispiel blinde Flecken bewusst gemacht. Meist waren sie es, die mich in einem Gespräch blockierten. Nur mit totaler Offenheit kann ich genau zuhören und bin unvoreingenommen. Dann werden auch Zwischentöne wahrnehmbar, wenn etwa der Klang der Stimme nicht zum Inhalt des Gespräches passt. Darin haben Menschen schon über schlimme Missbrauchserlebnisse gesprochen. Das alles gelingt nur durch den Schutz der Anonymität, die für uns ein besonders hohes Gut ist. Anrufer bringen uns großes Vertrauen entgegen, gerade jetzt rufen viele wegen ihrer Einsamkeit an. Manche sprechen von intimsten Dingen, die sonst niemand kennt. Besonders in der Nachtschicht erreichen diese Gespräche eine eigene Dimension – die Stille lässt mehr Bilder im Kopf erscheinen.
Anonymität bedeutet übrigens nicht, dass wir manche Anrufer nicht häufig sprechen. Eine mittlerweile junge Frau hatte sich erstmals als Zwölfjährige an uns gewandt. Der neue Partner ihrer Mutter hatte sie missbraucht. Bis heute ruft sie an. Sie ist aus der Wohnung der Familie ausgezogen und macht eine Ausbildung. Ich kenne nicht ihren Namen, weiß auch nicht, wo sie wohnt. Und doch ist sie mir unfassbar nah, weil sie sich mir geöffnet hat und ich sie auf ihrem Weg begleiten darf. Eben solche Erfahrungen machen mich demütig. Lege ich nach einem solchen Gespräch den Hörer auf, spüre ich großes Glück und inneren Frieden.
Text: anonym
Foto: Marius Jacoby
Telefonseelsorge – rund um die Uhr erreichbar
Anonym, kostenfrei und 24 Stunden an jedem Tag der Woche bietet die Telefonseelsorge ihren Dienst an. Auch der Kontakt per Chat und E-Mail ist möglich. Die Mitarbeitenden hören zu, damit Anrufende menschliche Nähe, Anteilnahme oder Anstöße zu neuem Lebensmut erfahren. Durch ein bundesweit genutztes technisches System sprechen Anrufende mit einer Person aus der eigenen Region.
Telefon: 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222
Mehr Infos: www.telefonseelsorge.de