Titelthema: ansprechen
Menschenskinder – Ansprache unter anderen Umständen
„Hebammen können auch mit den Händen sehen“, sagt Viktoria Borchardt-Ott und spielt auf das in ihrem Beruf so wichtige Fingerspitzengefühl an. Auf dem Weg zur Geburt benötigen Frauen aber auch eine sensible Ansprache. Aufbauend, positiv, Mut machend
Seit 35 Jahren zeigt Viktoria Borchardt-Ott schwangeren Frauen, wie sie souverän ihren eigenen Weg durch den Dschungel an medizinischen Untersuchungen und gesellschaftlichen Erwartungen finden. „Ich lerne unheimlich viel von den Frauen“, räumt die Hebamme bescheiden ein, die seit Anfang der 1990er Jahre im Münsterland lebt und arbeitet. Ihre Ausbildung begann sie 1984 in Berlin, wo der Werdegang einer Geburtshelferin ähnlich dem Studium an einer Fachhochschule organisiert wurde. Direkt nach der Wende zog sie der Liebe wegen nach Altenberge bei Münster und zog hier mit ihrem Mann drei Kinder groß. Sie hat seitdem in vielen Bereichen gearbeitet: Als angestellte Hebamme in Kliniken, als freischaffende in der Geburtsvorbereitung und -begleitung und heute vornehmlich in der Vor- und Nachsorge einschließlich Wochenbett. Das hat vor allem versicherungsrechtliche Gründe: Die Kosten für die Haftpflichtversicherung sind so hoch, dass Geburten ohne Arzt zunehmend seltener werden.
Tatsächlich hat jede Frau aber ab dem ersten Tag der Schwangerschaft bis weit in das erste Lebensjahr des Neugeborenen einen Anspruch auf die Begleitung durch eine Hebamme. Und die meisten werdenden Mütter nehmen ihn wahr. Alles beginnt mit dem Mutterpass, der von einer ärztlichen Praxis oder von einer Hebamme ausgestellt wird und der die Schwangerschaft penibel dokumentiert. Den bringen die Frauen mit zu einem ausführlichen Vorgespräch, das mit Borchardt-Ott telefonisch vereinbart wurde. Und was als vertrauliche Datenerhebung und Anamnese beginnt, mündet schnell in einem Beziehungsgespräch: Was erwartet die Mutter von der Hebamme, was kann und was will sie leisten?
Sensorik für den Seelenzustand und das Umfeld der Mutter
„Wichtig ist mir dabei die angemessene Augenhöhe“, sagt Viktoria Borchardt-Ott. „Ich möchte Frauen die Kompetenz über ihre eigene Schwangerschaft vor Augen führen und ihnen helfen, diese selbstbewusst wahrzunehmen.“ Starke Worte, die voraussetzen, dass die beiden im Laufe der Vorbereitung auf die Geburt zu einer vertrauensvollen Beziehung finden. Wie gelingt das? Vor allem durch Zuhören und Empathie, meint die Hebamme. Während die Stärke der modernen Medizin in immer präziseren Methoden zum Messen, Scannen und Analysieren liegt, zählen bei der Geburtsvorbereitung durch die Hebamme besonders ein offenes Ohr für Zwischentöne sowie eine sichere Sensorik für den Seelenzustand und das soziale Umfeld der werdenden Mutter. Letzteres hat sich stark gewandelt. Tendenziell nimmt das Alter der Erstgebärenden zu und die familiäre Bindung zur Generation davor ab. Beides kann verunsichern: Bin ich zu alt für eine reibungslose Geburt? Und wer hilft mir, wenn es Komplikationen gibt? Die selbstverständliche Familienhilfe ist erschwert, wenn die Eltern der werdenden Eltern nicht greifbar oder in der Begleitung nicht erwünscht sind. Da wird die Hebamme zu einer wichtigen Gesprächspartnerin, im besten Fall für beide Elternteile, was Borchardt-Ott immer anstrebt. Sie ist es auch, die durch Kurse Kontakte zu anderen Schwangeren herstellt und – falls nötig und gewünscht – andere Gesprächspartner vermittelt. Das können junge Eltern sein oder auch Familien in besonderen Lebenslagen, die etwa ein Kind mit Down-Syndrom bekommen haben.
Ängste und Freude, Leichtigkeit und Sorgen, das alles liegt in jeder Schwangerschaft eng beieinander. „Ich möchte unbedingt vermeiden, dass Eltern quasi neben ihrer eigenen Schwangerschaft herlaufen“, sagt sie und unterstreicht damit, wie wichtig es ist, die Eigenkräfte von Eltern zu fördern und zu fordern. Dazu muss eine Hebamme die Mütter bestärken, auf die Signale des eigenen Körpers und der Seele zu hören. Denn auch wenn vieles in der Entwicklung eines Fötus zum Kind in Tagen und Wochen bemessen wird, gibt es individuelle Abweichungen und Besonderheiten. Die muss Borchardt-Ott erkennen, einschätzen und Mut machend ansprechen.
Beziehungen werden individuell „ausbuchstabiert“
Das ist besonders schwer, wenn sie Warnsignale wahrnimmt, die unbedingt ärztlich abgeklärt werden müssen. Hier gerät die Beziehung von Mutter und Hebamme an Belastungsgrenzen, die oft nicht leicht zu ertragen sind. „Tendenziell rate ich zu Gelassenheit und Selbstvertrauen, aber in medizinischen Krisenfällen hilft das natürlich nicht“, berichtet sie, „da stehen das Wohl von Kind und Mutter klar im Vordergrund.“ Und das bedeutet unter Umständen auch die Trauerbegleitung, wenn eine Schwangerschaft ungewollt unterbrochen wird. Hier muss sie als Hebamme ihre eigenen Grenzen kennen und unter Umständen rechtzeitig therapeutische Unterstützung vermitteln. Viktoria Borchardt-Ott hat bereits mehr als tausend Schwangere begleitet. Jede hat ihre eigene Biografie, jede Beziehung wurde individuell „ausbuchstabiert“. Die genaue Zahl weiß sie nicht. Aber da sie ländlich wohnt, wird sie immer wieder an ihre Beziehungsarbeit erinnert, wenn sie Eltern und Kinder wiedertrifft, die sie begleiten durfte. Meistens ein bereicherndes, manchmal auch ein lustiges Erlebnis. Vor allem wenn der ehemalige Säugling die kleine quirlige Hebamme mittlerweile um einige Köpfe überragt und die sich trotzdem als Erstes an die Besonderheiten der Nabelschnur kurz nach dessen Geburt erinnert.
Text: Peter Beutgen
Fotos: Marius Jacoby
