
Nachgedacht
Der Mensch im Paradies
Aber Gott, der HERR, rief nach dem Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe deine Schritte gehört im Garten; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, davon nicht zu essen? Der Mensch antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen. Gott, der HERR, sprach zu der Frau: Was hast du getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt. So habe ich gegessen. Da sprach Gott, der HEER, zur Schlange: Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. (…) Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir und häufig wirst du schwanger werden. (…) Zum Menschen sprach er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir geboten hatte, davon nicht zu essen, ist der Erdboden deinetwegen verflucht. (…) Gen. 3,9-23
„Wo steckst du?“
Von Fragen, die das Paradies kosten und die Gott-Mensch-Beziehung retten können
Angesprochen oder gefragt zu werden, kann toll sein, ehrend. Es kann ein erhebendes Gefühl vermitteln oder „Schmetterlinge in den Bauch” zaubern. Angesprochen oder gefragt zu werden, kann aber auch unangenehm sein, lästig, ein schlechtes Gewissen machen oder die Schamesröte ins Gesicht treiben. Angesprochen oder gefragt zu werden, kann folgenreich sein. Entscheidend ist: Wer spricht oder fragt mich in welcher Situation und mit welcher Intention an? Im Paradiesgarten (Gen 3) wird nicht viel (an-)gesprochen oder gefragt. Aber das, was uns begegnet, hat es in sich. Da wäre zunächst die Schlange. Diese wendet sich unvermittelt an die Frau und Letztere lässt sich in ein folgenschweres Gespräch verwickeln. Anschließend tritt Gott auf den Plan, ruft nach dem Menschen und konfrontiert ihn mit der Frage „Wo bist du?“. (Gen 3,9) Diese erste Frage Gottes, die in der Bibel den Menschen in direkter Ansprache trifft, mag auf einen ersten Blick profan oder banal wirken. Doch hält die gesamte Kommunikationssituation teils überraschende Erkenntnisse für uns bereit – mit existenzieller Bedeutung.
Das Schöpfungsgeschehen ist zentral vom Wort (Gottes) geprägt (Gen 1): Gott spricht und Welt und Leben entstehen. Diese Schöpfungsworte haben keinen direkten Adressaten, ohne deswegen ins Leere zu gehen: Sie sprechen nicht an, sondern sie sprechen aus – und sie bewirken das, was sie aussprechen. Nachdem der Mensch – männlich und weiblich – geschaffen ist, wird er von Gott gesegnet und beauftragt (Gen 1,28–30). Und im Paradiesgarten ist es zunächst ein Gebot Gottes, das der Mensch zu hören bekommt (Gen 2,16f.). Was bislang fehlt: eine wechselseitige (verbale) Beziehungsaufnahme. Der Mensch antwortet nicht, ein Gespräch kommt nicht zustande. Auch der „Begrüßungsjubel“ angesichts der Frau (Gen 2,23f.) bleibt monologisch.
Das ändert sich erst in Gen 3. Hier finden wir die ersten „Gespräche“ der Bibel, hier begegnen uns die ersten Fragen. Und dies setzt jeweils etwas in Gang, das den Fortgang der Ereignisse fundamental verändert. In Gen 3,1 taucht zunächst die Schlange – Kennzeichen: schlauer als alle Tiere des Feldes – aus dem Nichts auf. Sie quatscht die Frau von der Seite an und ködert sie mit einer suggestiv gestalteten Frage: „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ Die Frau antwortet (Gen 3,2f.), indem sie das Gebot Gottes (Gen 2,15f.) fast wörtlich wiedergibt. Und schon sind die beiden im Gespräch. Die Replik der Schlange wiederum stellt die göttliche Strafandrohung, den Tod, infrage und lässt das Begehren nach der verbotenen Frucht erwachen. Das Begehren führt zur Tat und so kommt eines zum anderen.
Erkenntnis Nr. 1: Es gilt, gut achtzugeben, wer mich anspricht, anfragt. Bei schlauen Schlangen ist stets Vorsicht geboten – dummerweise sind diese im Alltag nicht so leicht zu erkennen. Als der Schöpfergott auftritt, verstecken sich der Mensch und seine Frau vor Gott, wie es in Gen 3,8 heißt. Die Menschen haben etwas ausgefressen; jetzt suchen sie ihr Heil im Blätterwald. Gott merkt dies sofort. Doch macht sich Gott nicht auf die Suche. Gott ruft vielmehr nach dem Menschen: „Wo bist du?“ (Gen 3,9) Dies ist die allererste Frage, die Gott dem Menschen stellt. Sie führt dazu, dass sich der Mensch seines eigenen Standorts bewusst werden und sich outen muss. In der Folge schleift Gott den sündigen Delinquenten nicht an Haaren oder Ohren aus seinem Versteck, sondern der Mensch stellt sich gewissermaßen selbst: Er stellt sich vor Gott, wird Gott zum Gegenüber – und muss in der Folge auch zu dem stehen, was er getan hat. „Wo bist du?“ Diese Frage lockt den Menschen aus der Reserve, er reagiert. Doch hören wir nicht etwa ein selbstbewusstes „Hier bin ich!“, wie aus Berufungsgeschichten bekannt.
Der Mensch antwortet, indem er sich zu rechtfertigen versucht. Das wiederum ruft weitere Nachfragen Gottes hervor: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?“ (Gen 3,11) „Hast du von dem Baum gegessen …?“ (Gen 3,11) „Was hast du getan?“ (Gen 3,13). Schritt für Schritt wird aufgedeckt, was versteckt werden sollte. Das Spannende daran: Erst das Übertreten des göttlichen Gebotes führt dazu, dass Gott und Mensch so ins Gespräch miteinander kommen, dass sie einander zu einem wirklichen Gegenüber werden. Was zum völligen Beziehungsabbruch führen könnte und immer noch kann – die Gebotsübertretung – führt zumindest zunächst zu einem intensivierten Beziehungsaufbau. Der Mensch ist Gott offensichtlich nicht gleichgültig. Schon das Versteckspiel nimmt Gott nicht einfach schulterzuckend hin. Gott fragt vielmehr nach dem Menschen: „Wo bist du?“ Und Gott fragt hartnäckig weiter.
Erkenntnis Nr. 2: Ein „Fehltritt“ kann in kommunikativer Hinsicht höchst produktiv sein. Dumm nur, dass sich das im Vorhinein kaum vorhersagen lässt. Doch ist die Angelegenheit noch nicht ausgestanden, die befürchtete Strafe ist noch nicht erfolgt. Wobei besser von einer Tatfolge zu sprechen ist: Der an Erkenntnis gereifte Mensch kann nicht weiterhin unschuldig im Paradies leben. Und damit gehen weitere Veränderungen einher, die Gott benennt. Willkommen in der Wirklichkeit, könnte man sagen. Kompositorisch ist dies brillant inszeniert: Die Schlange (1) spricht die Frau (2) an; diese isst und gibt auch ihrem Mann (3) davon (Gen 3,1–6). Gott ruft nach dem Menschen (= in diesem Fall: der Mann) (3); dieser verweist auf die Frau (2); diese wiederum auf die Schlange (1) (Gen 3,7–13). In der abschließenden Tatfolgenfeststellung kommen erneut alle Akteure vor: Schlange (1) (Gen 3,14f.), Frau (2) (Gen 3,16), Mensch/Mann (3) (Gen 3,17–19).
Erkenntnis Nr. 3: Mit dem Finger auf andere zu zeigen und sich so aus der Verantwortung stehlen zu wollen, hat bei Gott keinen Erfolg. Alle werden zur Rechenschaft gezogen, niemand kann die eigene Verfehlung auf einen Sündenbock abwälzen. Schlussendlich führt das Angesprochen- und damit Angefragtsein des Menschen durch Gott aus dem Paradies hinaus (Gen 3,22–24). Die Beziehung Gott–Mensch mag einen Knacks bekommen haben, komplett zerbrochen ist sie jedoch nicht.
Der Weg des Menschen mit Gott und vice versa geht weiter – dem Gespräch sei Dank. Das wäre Erkenntnis Nr. 4. Doch während Gott mit dem Menschen in einen dialogischen Austausch tritt, bleibt dies bei der Schlange komplett aus. Ihr wird vielmehr nur ihr Geschick angesagt (Gen 3,14f.). Bei aller Verwandtschaft von Mensch und Tier als Geschöpfe Gottes markiert Gen 3 in diesem Punkt einen deutlichen Unterschied. Erkenntnis Nr. 5: Nur der Mensch ist von Gott als kommunikatives Gegenüber akzeptiert – nur der Mensch ist „gottebenbildlich“ (Gen 1,26f.). Dies ist Auszeichnung und Verpflichtung zugleich – und bringt jede Menge Verantwortung mit sich.
Text: Christian Schramm
Christian Schramm ist biblischer Fortbildner im Bistum Hildesheim und Privatdozent der Katholisch-Theologischen Fakultät in Bonn.
Illustration: Patrick Schoden