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Den eigenen Stil finden
Manchmal möchte er aufspringen und eingreifen. Unterrichtsbesuche sind für Günter Nagel eine Herausforderung. Als Fachleiter für Katholische Religion am Studienseminar Hildesheim begleitet er Referendare und stellt Weichen für viele Berufsleben
„Ja, guten Morgen! Schön, dass das Gespräch klappt und die Technik läuft.“ Günter Nagel sitzt zu Hause in seinem Büro. Eine volle Bücherwand im Hintergrund, er blickt gut gelaunt in die Kamera seines PCs. Videokonferenzen gehören seit einem Jahr zu seinem Alltag. Drei- bis viermal in der Woche bespricht er sich mit seinen Kollegen, regelmäßig trifft er digital die Referendarinnen und Referendare, die er momentan betreut. Er sei auch technisch fitter geworden, sagt er. „Wenn das Bild oder der Ton doch mal wieder ausfallen, habe ich durchaus Ideen, woran es liegen könnte.“
Nagel arbeitet als Fachberater Katholische Religion für die Schulbehörde und das Kultusministerium. Er berät bei Personalentscheidungen, schreibt Kerncurricula, arbeitet das schriftliche Abitur für sein Fach aus, behandelt juristische Fragen und organisiert Fortbildungen. Außerdem arbeitet er seit 2014 als Fachleiter für Katholische Religion am Studienseminar Hildesheim – „für den Übergang, bis jemand anderes gefunden ist“, wie er betont. Er begleitet die Referendare in ihrer Ausbildung, gibt Theorie-Praxis-Impulse und schaut sich den Unterricht an. Er hilft den jungen Kolleginnen und Kollegen – entscheidet aber auch über deren weitere berufliche Laufbahn.
Der Videochat läuft heute störungsfrei. Dennoch freut Nagel sich, wenn wieder normal in den Klassen unterrichtet werden kann, wenn er die Referendarinnen und Referendare direkt bei der Arbeit beobachten kann. „Die Atmosphäre und die Arbeitsweisen im Klassenraum sind etwas ganz anderes als das Stellen von Aufgaben und der Ergebnisabgleich am Computer. Alles, was Interaktion ist, geht gerade verloren“, sagt Nagel. Gerade im Fach Religion seien das Streitgespräch, Gruppenarbeiten oder der Austausch unter den Schülern wichtig. Das alles sei jetzt nicht möglich. „Den Referendaren wird somit die Möglichkeit genommen, ihren Unterricht mit uns zu reflektieren und gute von schwachen Stunden zu unterscheiden“, sagt Nagel.
Günter Nagel ist jemand, der mitfiebert, der das Beste aus den Referendaren herausholen möchte. „Die Unterrichtsbesuche sind für mich eine körperlich-seelische Herausforderung“, sagt er. „Stillsitzen und nicht mitmachen dürfen – schrecklich!“ Vor allem an einem Punkt möchte er sich gerne einmischen: Wenn die Schüler ihre Aufgaben erledigt haben und die Ergebnisse in der Klasse vorstellen, verpassen die jungen Kollegen häufig die Chance, die Ideen, Konzepte und Theorien der Schüler aufzugreifen. „Da sagen die Schüler etwas, was schon Gottfried Wilhelm Leibniz zur Theodizee gesagt hat – und die Kollegen machen einfach weiter. Am liebsten würde ich aufspringen und sagen: ‚Klasse, ihr Schüler!‘ Und den Referendaren zurufen: ‚Packen Sie zu, knüpfen Sie da an!‘ “, sagt Nagel.
Oder er weiß schon beim Lesen des Unterrichtsentwurfs, wie die Stunde laufen wird: Wenn im fünften oder sechsten Schuljahr über die Schöpfungsgeschichte und den Umweltschutz gesprochen wird, ist das Stundenziel oft schon nach einer Viertelstunde erreicht. „Die Referendare unterschätzen oft das Weltwissen von Kindern“, sagt Nagel. Die Schüler wüssten heute Bescheid über Plastikteilchen in den Weltmeeren, über Schadstofffilter in Fabriken und über den ökologischen Fußabdruck. Aber er hält sich zurück. „Diese Erfahrungen kann ich den Referendaren nicht ersparen, das gehört zum Lernen dazu. Ich tröste dann hinterher: „So wie Ihnen, geht es im Grunde allen, auch mir, als ich angefangen habe.“
Am Ende des Referendariats entscheidet Günter Nagel nicht allein über die Note eines Referendars. Er steht im Austausch mit der Fachleiterin des zweiten Unterrichtsfaches, mit der zuständigen Pädagogin und auch mit weiteren Kollegen an der Schule. Für ihn zählt nicht nur das Fachliche. „Es gibt geborene Lehrerinnen, die vielleicht gut in Deutsch, aber schwächer in Religion sind. Aber sie können eine Klasse führen und als Schulleiter haben Sie die Gewissheit, dass alle Schüler von der Klassenfahrt gesund nach Hause kommen“, sagt Nagel. „In einem solchen Fall ist die Note in Religion nicht das Wichtigste.“ Das Fachliche entwickle sich in der Praxis ohnehin immer weiter. Er könne nach 15 oder 16 Monaten im Studienseminar nicht erwarten, dass die Referendare alle Themen der Theologie und des Religionsunterrichts umfassend aufgearbeitet haben, sagt Nagel. „Wenn wir das Gefühl haben, die Kollegin ist patent, hat ihre Klassen im Griff und führt gute Elterngespräche, dann würde ich die Note in Religion nie so vergeben, dass ihre berufliche Zukunft gefährdet würde.“
„Nur wenige Fälle, bei denen man ins Zweifeln kommt“
Grundsätzlich, sagt Nagel, ist die Mehrheit der Referendare mit ihrer Berufsentscheidung zufrieden. „Es sind nur wenige Fälle, bei denen man ins Zweifeln kommt“, sagt Nagel. Wenn Klassen aller Altersstufen dem Lehrer Probleme bereiten, wenn die Schüler im Unterricht über Tische und Bänke gehen, wenn alle Gespräche ausschließlich um den Punkt kreisen, dass andere oder äußere Umstände dafür haftbar zu machen sind. In der Mitte des Referendariats, beim Ausbildungsstandsgespräch, könne er seine Bedenken ansprechen, sagt Nagel. Es sei aber ein sehr heikles Thema. „Wir müssen Formulierungen finden, die gesichtswahrend und juristisch nicht angreifbar sind. Das ist manchmal ein echter Eiertanz. Ich und meine beiden Kollegen sind der Meinung, dass der Kandidat oder die Kandidatin mit dem Beruf nicht glücklich werden wird – aber wir dürfen es nicht sagen. Die Referendare müssen es selber merken.“ In Extremfällen geht es dann um die berufliche Zukunft. „Die meisten wollen einfach durch das Referendariat durchkommen und sehen dann weiter. Ich kann das auch verstehen – mit vielleicht 28 Jahren, wenn der bisherige Werdegang komplett auf den Lehrerberuf ausgerichtet ist, ist es schwierig, noch einmal neu zu starten.“
Günter Nagel versucht dann zu helfen. Vielleicht ist die Schulform falsch? Er beobachte häufiger, dass Kollegen mit einer sehr sanften Ansprache in der Unterstufe gut ankommen, aber ab Klasse 7 gegen die Wand laufen. Er erinnert sich an eine Kollegin, die vom Gymnasium an eine Grundschule gewechselt ist. „Sie ist dort glücklich geworden und hat unglaublich viel an Lebensqualität gewonnen“, sagt Nagel.
Oft erkennt er bei den Unterrichtsbesuchen auch Probleme, die sich leicht beheben lassen. Eine Referendarin hat den Schülern alles abgenommen: Sie verteilte die Zettel, ließ die Jalousien herunter, führte das Gespräch, stand immer vorne an der Tafel. Nagel schlug ihr vor, einige dieser Aufgaben von Schülern erledigen zu lassen und sich im Unterricht auch einmal zurückzunehmen. „Das ist kein Hexenwerk, solche Fehler zu erkennen und abzustellen. Und es hat gleich geholfen. Es zog ein anderes Klima in den Klassenraum ein. Die Schüler haben mitgearbeitet und sich nicht einfach zurückgelehnt“, sagt Nagel.
Er möchte die Stärken der Referendare herausarbeiten. Nagel erinnert sich an eine Kunstlehrerin, die fachlich in Religion noch Schwächen hatte. „Aber sie war kreativ, technisch fit und schaffte es, Ideen aus der Kunst mit der Religion zu verbinden.“ Sie habe zum Beispiel Bilder viel genauer interpretieren oder Lernplakate mit Schülern ästhetischer gestalten können, sagt Nagel. „Und eine schönere Gestaltung ist manchmal auch die fachlich bessere Gestaltung. Weil sie ihre Stärken eingebracht hat, hat sie in der Klasse ein ganz anderes Auftreten entwickelt.“
„Jeder Lehrer muss ‚sein Ding‘ finden – die Nische, in der er gut ist, in der er Spaß an der Arbeit hat“, sagt Nagel. Sein Ding seien die Fachberatung und das Erstellen von Unterrichtsmaterial. „Diese Erkenntnis findet sich aber erst mit den Jahren. Das können wir in den wenigen Monaten des Referendariats nicht leisten. Wenn man aber diesen Raum gefunden hat, ist es die beste Burnout-Prophylaxe.“
Text: Kerstin Ostendorf
Fotos: Marius Jacoby
