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Er will sich umkrempeln
Olaf Jesse raubte Banken aus. Bis er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Heute sagt er: „Die Zeit in der Haft war das Beste, was mir passieren konnte“
Aaufgelöst steht Olaf Jesse* damals im Mehrzweckraum der Justizvollzugsanstalt (JVA) Sehnde nahe Hannover, der auch als Kirche genutzt wird. Überwältigt von seinen Emotionen kann er nur noch weinen, weinen und weinen. Was war passiert? Olaf Jesse, heute 45 Jahre alt, hatte jahrelang Banken ausgeraubt. Familie und Freunde ahnen nichts davon. Doch die Polizei kommt ihm auf die Spur. Es kommt der Tag, den er als den schlimmsten seines Lebens bezeichnet – er wird verhaftet. „Da ist alles um mich herum zusammengebrochen“, sagt Olaf Jesse. Seine Partnerin, seine Mutter, Schwiegereltern, Geschwister, alle wissen plötzlich Bescheid. Olaf Jesse kann ihnen nichts erklären, weil er nicht mehr raus darf. Obwohl sie schockiert sind, stehen seine Angehörigen zu ihm. Seine Partnerin lässt ihn nicht im Stich. Sie schreibt Briefe an Ämter und Behörden, regelt das Notwendige in seinem Namen. Aber irgendwann ist der Schriftverkehr abgearbeitet. „Und dann sitzt man da, ganz alleine“, sagt Jesse. Eine Frage steigt in ihm hoch: „Was hast du da eigentlich gemacht?“ Zu acht Jahren Gefängnis ist er verurteilt worden. Der Einfluss der anderen Gefangenen macht ihm zu schaffen. Auch die Wärter sprühen nicht vor Mitgefühl. Einmal ist Olaf Jesse in der Kirche der JVA gelandet. Der Moment, in dem er dort tränengeschüttelt steht, ist ein Wendepunkt. „Das war der Beginn, zu sagen: Ich will mich jetzt umkrempeln“, schildert er. Er fragt sich, warum er Banken ausgeraubt hat, steht zu seiner Schuld und sucht Orientierung. Er lernt Gitarrespielen. Tritt in den Chor ein, der Gottesdienste begleitet. Er fängt an zu meditieren.
„Befreiend, dass sich jemand für meine Probleme und Freuden interessiert“
Und er führt Gespräche mit dem Gefängnisseelsorger Andreas Leciejewski-Leder. Der gibt ihm das Gefühl, nicht nur eine Nummer zu sein. „Dass nicht nur ein Psychologe, ein Gutachter, ein Beamter sich mit mir beschäftigt, sondern tatsächlich jemand da ist, der sich für meine Gedanken, meine Probleme, meine Freuden interessiert“, das sei befreiend gewesen, erzählt Jesse. „Wir haben auch sehr viel gelacht“, erinnert er sich. Er beginnt, die Bibel zu lesen. Er liest das Alte und das Neue Testament, die Schriften von Buddha, den Koran und die Schriften des Hinduismus. „Es ging mir darum, Wege zu finden, was mir helfen kann.“ Der Glaube an einen Gott, wie er in der Bibel steht, ist ihm nach wie vor fremd. Seine Spiritualität, das ist der Glaube an „Mutter Natur“ und an das Prinzip „Was ich gebe, das bekomme ich zurück“. Er söhnt sich aus mit seinem Leben. Dann steht ein Gerichtstermin zur Überprüfung seiner Haftzeit an. Der Richter erlässt ihm drei Jahre seiner Freiheitsstrafe. „Ich erkenne den Bankräuber nicht wieder“, urteilt er. Seit fast fünf Jahren ist Olaf Jesse ein freier Mann. Er arbeitet in einem Ingenieurbüro. Mit dem Großteil seines Gehaltes zahlt er den Schaden ab, den er als Bankräuber angerichtet hat. Von dem Rest lebt er. Nicht alles ist perfekt. Reue und das Gefühl, etwas verpasst zu haben, bleiben. Während Olaf Jesse im Gefängnis saß, starb seine Mutter. Auch das war ein schwieriges Erlebnis. Die Freundschaft zu Andreas Leciejewski-Leder existiert noch. Auch weil dieser Mann im Gefängnis für ihn da war, kann Olaf Jesse sagen: „Ich bin stolz darauf, wer ich heute bin.“
Text: Karina Scholz
Foto: wikimedia commons/Beademung
* Name von der Redaktion geändert