Fragestunde
"Verwundbarkeit wirkt wie ein Riss in der Rüstung"
Warum sind wir Menschen so verletzlich? Die Theologieprofessorin Dr. Hildegund Keul erforscht an der Universität Würzburg das Thema „Vulnerabilität“ und sieht Verletzlichkeit als Zumutung, aber auch als göttliche Chance
Wie verletzlich haben Sie sich gefühlt in den langen Monaten der Pandemie?
Ich habe das auf verschiedenen Ebenen erlebt: als Mensch, aber auch als Wissenschaftlerin. Wenn man zu einem Thema forscht, das auf einmal zu tagtäglicher Dominanz in den Nachrichten und der Lebenswirklichkeit findet, dann ist das zunächst einmal hoch spannend. Alle konnten und mussten erleben, wie Vulnerabilität als Macht funktioniert und unser Leben auf den Kopf stellt. Aber natürlich hätte ich bei all dem Leid und den Nöten, die diese Pandemie weltweit erzeugt hat, gerne darauf verzichtet.
Warum ist es so wichtig, Verwundbarkeiten im Licht der Theologie zu betrachten? Sind da nicht eher Politik, Gesellschaft und die Versicherungswirtschaft gefragt?
Wunden und Verwundbarkeiten gehören zum Kerngeschäft der christlichen Theologie. Zum einen, weil Gott sich in Jesus Christus verwundbar gemacht hat, dem dann auch schlimmste Gewalt angetan wurde. Zum anderen zeigen uns Feste wie Pfingsten, dass Christen in seiner Nachfolge lernten mussten, mit dieser Verletzung anders umzugehen. Sie reagierten eben nicht mit aggressivem Selbstschutz, sondern setzten auf Offenheit und Kommunikation – und konnten die Krise so gemeinschaftlich bestehen.
Ist es eigentlich gerade ob dieser Erfahrung erstrebenswert für Menschen, unverwundbar zu sein?
Im irdischen Leben unverwundbar zu werden, das ist ein sehr ambivalentes Gedankenspiel. Denn wer ausschließlich auf Selbstschutz setzt, braucht starke Waffen. Nehmen wir Achill oder Siegfried in der Mythologie: Das waren nicht durch Zufall Krieger. Wer sich unverwundbar fühlt, kann besser zuschlagen. Das birgt enormes Konfliktpotenzial. Gerade wenn man an Staaten in der Geschichte und heute denkt, die unverwundbar sein wollen: Sie rüsten auf und setzen auf Gewalt und Krieg. Dagegen wirkt Verwundbarkeit eher wie ein Riss in der Rüstung.
Was heißt das konkret?
Verwundbarkeit ist ganz eng verbunden mit der Berührbarkeit der Menschen, also mit Empathie, Zuneigung und Solidarität. Wer berührbar sein will, muss sich verwundbar machen und Risiken in Kauf nehmen. Mit anderen Worten: Wer keine Wunden riskiert, kann nicht lieben. Dabei ist die Liebe doch die schönste Erfahrung im Leben. Auch wenn sie häufig schmerzhaft ist – wer will schon auf sie verzichten?
Wie findet man denn die richtige Balance zwischen Schutz und Verwundbarkeit? Gibt es da Hinweise aus der Theologie?
Es ist in der Tat immer sehr wichtig abzuwägen, wo man sich schützen muss und wo man Verwundbarkeit riskiert, um erfülltes Leben zu ermöglichen. Ein Beispiel: Wenn Menschen sich entscheiden Eltern zu werden, nehmen sie immer Verletzungen und lebenslange Verletzlichkeit in Kauf. Das gilt vor allem für Frauen, aber auch für Väter. Schwangerschaft und Geburt gehen nun mal nicht ohne Verwundungen vonstatten. Aber auch von der psychologischen Seite her betrachtet gehen Eltern bewusst das Risiko der Verwundbarkeit ein. Und warum? Weil sie hoffen, dass es sich lohnt, weil neues Leben entsteht. Diese Abwägung zwischen Selbstschutz und Wagnis betrifft natürlich auch viele andere Bereiche des menschlichen Lebens.

Verlangt Gott von uns, dass wir uns verwunden lassen?
So würde ich das nicht ausdrücken. Ich würde eher sagen, er verlockt uns dazu. Das ist – theologisch betrachtet – die Verheißung, die Gott uns macht: Zeigt eure Wunden, öffnet euch den Nächsten, und euer Leben wird reich. Dieser Gedanke ist für die christliche Spiritualität von zentraler Bedeutung: keine Liebe ohne Verletzlichkeit. Kann man sich denn nicht vor Verwundungen schützen, ohne dass dadurch andere verwundbarer werden? Das ist heikel, wie die Pandemie uns immer wieder vor Augen führt. Denken Sie an die Impfdebatte: Alle wollen, dass es schnell geht. Aber zugleich kann jede Dosis nur einmal vergeben werden. Bin ich hier großzügig, fehlt Impfstoff woanders. Im schlimmsten Fall genau dort, wo Menschen noch verletzlicher sind als wir mit unseren weitestgehend intakten sozialen Systemen, was Gesundheit und Versorgung angeht. Wird hier nicht sauber abgewogen, entsteht eine Ungerechtigkeit, die unter Umständen ein enormes Konfliktpotenzial freisetzt.
Die Pandemie hat uns unsere Verletzlichkeit vor Augen geführt. Aus Ihrer Sicht als Forscherin: Wie haben wir uns geschlagen?
Gab es auch Momente, die Mut machen? Da muss ich zunächst mal meine Kolleginnen und Kollegen in der Virologie loben, weil die so wahnsinnig schnell waren mit der Entwicklung eines Impfstoffes. Damit war nach allen Studien nicht zu rechnen. Natürlich musste dafür viel Geld investiert werden. Aber das wurde mutig gemacht. Da zeigt sich eben auch die Stärke menschlichen Handelns: nicht nur darauf zu achten, sich selbst zu schützen, sondern gemeinsam etwas zu entwickeln, das letztlich allen hilft. Viele haben Unglaubliches geleistet in der Pandemie, auch in den Krankenhäusern. Wir waren überall dort stark, wo Menschen sich verbunden und verbündet haben, um den destruktiven Kräften unserer Vulnerabilität Einhalt zu gebieten, um Schmerzen zu lindern, um Wunden zu heilen. So entsteht viel Gutes neu.
Zeitgleich mit der Pandemie geht die katholische Kirche durch finstere Zeiten: Missbrauchsskandal, Vertrauensverlust, Austrittswelle. Wie kann sie mit ihrer eigenen Verwundbarkeit umgehen?
Zunächst einmal muss sie einen bitteren Weg gehen. Das steht außer Frage. Denn bislang zeigt die Kirche auf der Führungsebene einen fatalen Umgang mit Verwundbarkeit: Sie tut alles, um ihre Leute, die Kleriker und die Institution zu schützen. Vertuschung verwundet aber die Opfer von Gewalt und Missbrauch erneut. Damit tut die Amtskirche das Gegenteil von dem, für was sie eigentlich da ist: Statt Vulnerable zu schützen, hat sie ihre Macht eingesetzt, um sich selbst und ihre Leute unbeschadet zu lassen. Sie hat nach dem Leitsatz gehandelt, lieber andere verwunden, als selbst verwundet zu werden. Das ist eine Katastrophe. Die Kirche muss zu einem ganz anderen Umgang mit Vulnerabilität finden.
Gibt es denn innerhalb der Kirche schon eine Debatte, die in diese Richtung führt?
Auf jeden Fall. Das Thema Vulnerabilität erfährt angesichts der Missbrauchs- und Vertuschungskrise einen enormen Aufwind. Auch die Kirche muss sich ihrer Verwundbarkeit stellen und selbst jenen anderen Umgang mit Verwundbarkeit einüben, für den sie eigentlich steht: Lieber selbst verletzt werden, als selbst gewaltsam werden. Wenn wir uns als Gemeinschaft dieser Aufgabe stellen, kann Neues entstehen. In jeder Verletzlichkeit liegt auch die Chance zur Veränderung.
Text: Peter Beutgen
Fotos: Andreas Kühlken
Vulnerabilität: Die Debatte
Die menschliche Verwundbarkeit übt im persönlichen und politischen, sozialen und kulturellen, und nicht zuletzt im religiösen Leben eine unerhörte Macht aus. Zugleich gehören Verwundungen, Gewalt und Leid zu den Kernthemen christlicher Theologie. Seit 2010 arbeitet Professorin Dr. Hildegund Keul daran, den Vulnerabilitätsdiskurs und die Theologie miteinander zu verbinden. Die Theologin und Religionswissenschaftlerin aus Würzburg interessiert die Macht der Verwundbarkeit in Migrationsdebatten, religionspolitischer Gewalt und der Bekämpfung von Armut. Infos: www.verwundbarkeiten.de