Nachgedacht

Schmerz und Ohnmacht 

Die drei Freunde Hiobs hörten von all dem Bösen, das über ihn gekommen war. Und sie kamen, jeder aus seiner Heimat: Elifas aus Teman, Bildad aus Schuach und Zofar aus Naama. Sie vereinbarten hinzugehen, um ihm ihre Teilnahme zu bezeigen und um ihn zu trösten. Als sie von fern aufblickten, erkannten sie ihn nicht; sie schrien auf und weinten. Jeder zerriss sein Gewand; sie streuten Asche über ihr Haupt gegen den Himmel. Sie saßen bei ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und keiner sprach ein Wort zu ihm. Denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war. (…) Vom Hörensagen nur hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut. Darum widerrufe ich. Ich bereue in Staub und Asche.
Hiob 2,11-13 und 42,5-6

Schuldlos und ratlos

Hiob war gottesfürchtig, „untadelig und rechtschaffen“ (Hiob 1,1). Dennoch prüfte Gott ihn. Er nahm ihm alles – seinen Reichtum, seine Familie und seine Gesundheit. Zwar löst sich am Ende der Erzählung alles Unglück in Wohlgefallen auf. Die Grundfrage des Hiobbuches aber bleibt bestehen und aktuell: Wie kann solch schweres Leid einem schuldlosen Menschen geschehen? Die Gestalt, das Sprechen und Handeln Hiobs konfrontiert uns aber nicht nur mit der Frage menschlicher Schuld und Sünde, sondern eben auch mit einer Grunderfahrung des Menschseins schlechthin. In Hiob begegnet uns ein leidender Mensch. Hiob leidet an seinem Schicksal; er fühlt sich ungerecht behandelt; weitgehend tatenlos muss er sein Unglück mitansehen; etwas oder jemand greift zu seinem Schaden und auf unvorhergesehene Weise in sein Leben ein, das für ihn nun kein Leben mehr ist. Ohnmacht, Unverständnis und Ratlosigkeit stellen sich sein.

Auch die Reaktion Hiobs hierauf mag uns nicht überraschen. Es ist die emotionale, zutiefst authentische und wiederholte Klage, dann auch die Anklage Gottes. Zu Beginn noch schweigt Hiob sieben Tage lang (Hiob 2,13). Dann aber bricht es, ganz plastisch gesprochen, aus ihm heraus. Seine Emotionen übermannen ihn, er kann sie nicht mehr zurückhalten. Auch dies dürfte uns bestens bekannt sein, wenngleich vielleicht nicht in diesem Extrem. Denn Hiob verflucht den Tag seiner Geburt und offenbart uns damit seine aus den Fugen geratene Gefühlswelt, seine schmerzhafte Gefühlslage. Er verleiht seiner Trauer und Ohnmacht Ausdruck. Da sind der Zorn angesichts Gottes ungerechten Angriffs (Hiob 16,6-17), die Traurigkeit (Hiob 17,7), die Hoffnungslosigkeit (Hiob 17,13/19,10) oder auch die Einsamkeit (Hiob 19,13-22). Hiob ist nicht nur gebeutelt von seinem offenbaren Leid, sondern auch von seinen negativen Gefühlen.

Kurzum: Die Hiob-Erzählung stellt nicht nur die Frage nach dem Ursprung von Schuld und Leid. Hiob selbst begegnet uns als emotionales Sinnbild für jedermann und jederfrau, wenngleich die Drastik der Prüfung Hiobs insgesamt eine andere sein mag. Dennoch aber sei, im Sinne der Analogie, der Brückenschlag erlaubt. Viele Menschen nämlich mögen sich in den letzten Monaten angesichts der zahlreichen „Hiobsbotschaften“ nicht nur, aber gerade auch im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie (Todeszahlen, Inzidenzwerte, Lockdown-Ankündigungen usw.) oftmals ähnlich wie ebendieser Hiob gefühlt haben: zornig, traurig, hoffnungslos oder einsam. Wie oft mag uns Hiob aus der Seele gesprochen haben, wenn er sagt: „Ja, ich hoffte auf Gutes, doch Böses kam; ich harrte auf Licht, doch Finsternis kam.“ (Hiob 30,26)

Theologisch-ethisch ließe sich an diese Beobachtungen zur Emotionalität bei Hiob mit der Frage nach dem grundsätzlichen Stellenwert, dem Sinn und Unsinn von Gefühlen anschließen. Der große mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin (1225–1274) spricht von ihnen als „passiones animae“, als „Erleidungen der Seele“ will man etwas schwerfällig übersetzen. Während Gefühle auch heute noch und keineswegs selten als natürlich-affektive Widersacher rational-kultivierter Abwägung verstanden werden, sensibilisiert Thomas dafür, Gefühle auch als positive Faktoren menschlichen Seins und Handelns zu begreifen. So könnten Emotionen wie Zorn, Stolz oder Neid zwar negatives Handeln befördern, gerade dort, wo sie zur festen Haltung, zum Laster werden. Im Sinne des gerechten Zorns oder authentischen Stolzes könnten sie, im Zusammenspiel mit der menschlichen Vernunft, durchaus aber auch positives Handeln befördern, so Thomas.

Vergleichbares findet sich im Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola (1491–1556) wieder. Darin zeigt Ignatius, dass die Unterscheidung der Geister sich keinesfalls in rein rationaler Betrachtung erschöpfe, sondern gerade auch das bewusste Hinhören und kritische Ausdeuten innerer Gefühlsregungen umfasse. Gefühle sind letztlich nichts anderes als Impulse individueller Orientierung. Sie zeigen, was uns bewegt, was für uns von Bedeutung ist. Sie machen unseren je eigenen Zugang zu unserer Welt unmittelbar erfahr- und spürbar. Sie offenbaren Verletzlichkeiten und informieren uns darüber, ob es uns gutgeht oder ob wir etwas dafür tun müssen, dass es uns besser geht.

Was lässt sich hieraus und dann auch nochmals im Blick auf Hiob für Emotionalität als anthropologische Grunderfahrung und den Umgang mit ihr lernen? Zunächst ganz grundlegend: Gefühle sind menschlich und natürlich. Sie sind moralisch betrachtet neutrale, potenziell positive wie negative und wichtige individuelle Orientierungsgrößen. Wie man einem Gefühl Ausdruck verleiht, kann dabei ganz unterschiedlich sein, wie das anfängliche Innehalten und dann die vie-len Klagen Hiobs zeigen. Seine Gefühle herauszulassen, ist moralisch legitim und oftmals sogar notwendig um Willen der eigenen geistigen Gesundheit, solange sie keine destruktive Wirkkraft für einen selbst oder für andere entfalten. Gefühle, auch intensive Gefühle zu haben, ist kein Anzeichen von Schwäche, sondern ein Hören auf die Signale des eigenen Körpers und der Seele. Hiob zeigt uns beispielhaft, Gefühle wie Schmerz, Trauer und Wut zu spüren, zu ihnen zu stehen und sie auszudrücken. Er verdeutlicht uns aber auch, wie wichtig es ist, über seine Gefühle zu sprechen. Hiob sagt seinen Freunden und damit auch uns als Lesenden, was er empfindet. Er spricht, lange, viel und immer wieder von Neuem. Er lädt uns dazu ein, es ihm gleichzutun, zu reden mit Gott, Familie und Freunden, sich von diesen auffangen und nicht wegtragen zu lassen von all den vielen Gefühlen, die unser alltägliches Leben begleiten.

Text: Alexander Merkl

Prof. Dr. Alexander Merkl ist Juniorprofessor für Theologische Ethik an der Stiftung Universität Hildesheim

Illustration: Patrick Schoden