auffangen
Wenn der Platz leer bleibt
Der Tod eines Schülers oder einer Schülerin ist naturgemäß eine Extremsituation. Das Gymnasium Marienschule in Hildesheim musste das mehrfach erfahren. Das Kollegium hat dabei gelernt, gut koordiniert und sehr sensibel zu reagieren
Zwei große Kerzen werden in die Kirche getragen. Freunde entzünden sie mit dem Licht der Osterkerze. Es folgen einige Worte zu Florian, den lebenslustigen Jahrgangssprecher und Handballspieler, der im November bei einem Bahnunfall ums Leben gekommen ist. Auch an Anna, die mit Florian gut befreundet war und im März nach vielen Jahren ihrer Krebserkrankung erlegen ist, wird liebevoll erinnert. Es folgt Musik. Erst dann beginnt der Abiturgottesdienst, in dem eigentlich auch Florian und Anna ihr Abitur feiern wollten.
Noch jetzt fällt es Claudia Scholz und Barbara Neuhaus schwer, über die Ereignisse aus den Jahren 2016 und 2017 zu sprechen. Die Augen werden feucht, Worte stocken. Schon das Zuhören tut weh, wenn man währenddessen die Schmerzen der Mütter sieht. Doch sie sind nicht hier, weil sie über ihre Trauer sprechen möchten, sondern darüber, wie getragen sie sich bis heute in ihrer Trauer durch die Schule fühlen. Beispielhaft an diesem Ort, der Kapelle der Schule. Schon fast sinnbildlich fällt an diesem Tag nur wenig Licht durch die doch so farbenfrohen Fenster.
An der Marienschule, einem katholischen Gymnasium in der Altstadt Hildesheims, hat der Tod allein von fünf Schülerinnen und Schülern innerhalb von fünf Jahren dafür gesorgt, dass man sehr vorbereitet auf so ein Schicksal reagiert. Das war 2016 nicht absehbar. Annette Handzik hatte gerade erst als Referentin beim Schulpastoralen Zentrum in Hildesheim begonnen, als an einem Wochenende der Unfall von Florian passierte. „In diesen Tagen stürzte die Situation über uns alle herein“, erinnert sie sich. Was war in der Nacht, in der Florian noch allein in einen Club wollte, genau passiert? Die Sachlage war unübersichtlich, auch wenn allen klar war, dass es ein Unfall gewesen sein musste. Die Nachricht über seinen Tod verbreitete sich per WhatsApp schnell. „Wir haben montags um 8 Uhr zuerst einmal alle Schülerinnen und Schüler in unsere Kapelle geholt, um einen Moment des Sammelns und Sich-Erinnerns zu ermöglichen. Auch wollten wir allen einen Mindestkenntnisstand vermitteln“, berichtet Handzik. Zwei Tage später gab es eine Abschiedsfeier in der Schule.
Kondolenzbuch tröstlich, auch wenn viele Tränen flossen
In ein für alle zugängliches Kondolenzbuch konnten sich Schülerinnen und Schüler ebenso wie Lehrkräfte und sonstige Mitarbeiter eintragen, Gefühle äußern und Grüße senden. Dieses Buch wurde später seinen Eltern übergeben. „Wir haben oft darin gelesen. Die Einträge waren für uns sehr tröstlich, auch wenn dabei viele Tränen geflossen sind“, sagt Claudia Scholz. „Dabei konnten wir Florian noch einmal in seinem Alltag erleben.“
Das gelang Annas Eltern lange Zeit nicht. Ihr Schmerz saß zu tief. Anna war die Älteste von vier Kindern. Während der dritten Klasse tauchte der Krebs ein erstes Mal auf. Es folgten wechselvolle Jahre: Chemotherapie, lange Zeit Unterricht zu Hause, später auch in der Schule. Freunde und Lehrkräfte wussten immer Bescheid. 2015 brach der Krebs erneut aus. Dennoch: Im Januar 2017 legte Anna die beste Chemieklausur des Jahrgangs hin. Für die Abiturklausur wurde ein eigener Raum für sie vorbereitet, Lehrer wurden nur für ihre Betreuung organisiert. Doch einen Tag vor der Physikklausur kam die Gewissheit: Sie hatte keine Chance mehr. „Da hat sie gesagt: ‚Ich will nicht mehr‘“, erinnert sich Barbara Neuhaus. Freunde kamen. „Es waren 60 Leute im Wohnzimmer. Alle haben sie gesegnet, manche sind 24 Stunden bei uns geblieben. Bis sie dann gestorben ist.“ Jahr für Jahr blühen im Frühling Blumen ihres Jahrgangs auf ihrem Grab.
Der offene und wohlüberlegte Umgang mit den Todesfällen ist offenkundig Teil einer empathischen Schulkultur. „Was zum Beispiel guttut, ist dieses ehrliche Nachfragen. Erst vergangene Woche fragte Klaus Neumann, der Schulleiter, wie es uns geht“, erzählt Barbara Neuhaus. „Es ist für uns als Eltern und für die Geschwister gut zu wissen, dass dieser Verlust unverändert präsent ist und Rücksicht genommen wird.“ Claudia Scholz lenkt den Blick weiter: „Das muss man sich vorstellen: Unmittelbar nach Annas Tod haben die Mitschüler trotzdem ihre Abiklausuren geschrieben. Im Umgang mit dem Tod unserer Kinder und mit der Trauer der engsten Freunde oder auch der Geschwister haben diese Schüler vieles gelernt, was in keinem Abiturzeugnis steht.“
Ein sensibles Füreinander und Miteinander durchzieht sämtliche Gespräche. Auch Schüler, die Todesfälle etwa in Parallelklassen erlebt haben, berichten das. Naturgemäß ist dort die Betroffenheit eine andere und der Übergang in die Normalität vollzieht sich schneller. Doch die Begleitung durch die Schule scheint immer wieder durch. Genau für die sorgt eine enge Zusammenarbeit des Teams religiöses Schulleben mit dem Schulpastoralen Zentrum des Bistums. Dem Team religiöses Schulleben gehören vier Lehrkräfte an, darunter Elisabeth Littmann und Schulleiter Klaus Neumann. Das Team trifft sich einmal die Woche, um Gottesdienste oder Aktionen etwa zur Fastenzeit zu besprechen. „Wir haben einen Notfallkoffer, in dem auch eine Tischdecke, Kerzen, Feuerzeug und ein Kondolenzbuch enthalten sind“, berichtet Elisabeth Littmann. „Auch wenn es sich banal anhört: Es entlastet, dass wir im Bedarfsfall schnell mit diesen Materialien einen Trauertisch erstellen können. Da geht keine Zeit verloren, die wir sinnvoller nutzen können.“ Annette Handzik vom Schulpastoralen Zentrum wiederum unterstützt die Lehrkräfte als in der Trauerarbeit erfahrene Seelsorgerin.
Auf diese Zusammenarbeit konnten sich auch Cornelia Grams und David Kappermann verlassen. Als Klassenlehrerteam sahen sie sich erst im März dieses Jahres mit einem Todesfall in ihrer siebten Klasse konfrontiert. Kathi litt unter einer genetisch bedingten Stoffwechselerkrankung. „Trotz ihrer langen Leidensgeschichte war sie ein sehr lebensfrohes Mädchen“, erzählt David Kappermann. Im Jahr zuvor konnte Kathi lange Zeit die Schule nicht besuchen. „Dafür haben wir mit den Eltern Einzelunterricht außerhalb der Schule organisiert“, so Grams. Ab Herbst dann die langsame Heranführung an den Unterricht innerhalb der Schule.
Schüler sollten Nachricht geschützt zu Hause erhalten
Doch ein Virus, den Kathi sich im Winter eingefangen hatte, ließ ihren Körper abbauen. Sie starb freitags, bevor die Corona-Pandemie wieder einen Unterricht in der Schule zuließ. „Die Schülerinnen und Schüler hatten sich also über Monate nicht gesehen. Sie sollten alle diese Nachricht geschützt zu Hause erhalten. Deshalb haben wir an dem Wochenende eine E-Mail an die Eltern geschrieben“, berichtet Kappermann. Montags und dienstags – im Wechselunterricht war die Klasse ja in zwei Gruppen geteilt – begann der Tag jeweils mit einer offenen Zeit zum Erinnern und Trauern in der benachbarten Kreuzkirche. Bis dahin war mit dem Team religiöses Schulleben schon alles Nötige besprochen. Diese Kollegen standen den Kindern auch als Ansprechpartner zur Verfügung. „Wir konnten uns als Klassenlehrerteam gegenseitig stützen. Das war eine Erleichterung“, betont Grams. „Wir brauchten nichts zu organisieren, sondern konnten uns um unsere Klasse und unsere eigene Trauer kümmern. Unser Schulleiter meinte nur: ‚Wenn Sie ein paar Tage für sich brauchen, dann nehmen Sie sich die. Das kriegen wir hin.‘“
Die Trauer und das Erinnern sind auch in dieser Klasse nicht nach wenigen Tagen verschwunden. Im Gegenteil. Als Kathi die Schule krankheitsbedingt nicht besuchen konnte, hatte die Klasse ihr einen Teddy und die in der Schule für jede Klasse obligatorische Klassenkerze geschenkt. Genau diesen Teddy nun übergab die Familie nach Kathis Tod der Klasse. Unverändert hat er in der Klasse einen Platz, im Grunde Kathis Platz.
Text: Rainer Middelberg
Fotos: Marius Jacoby
