Fragestunde

"Sagen, was man denkt, und tun, was man sagt"

Im Wahlkampf kann er auch austeilen. Im politischen Alltag gilt er aber mehr als pragmatischer Macher. Niedersachsens Finanzminister Reinhold Hilbers fordert von der Politik allerdings auch, Orientierung zu bieten

Sie waren unter anderem in einem Industrieunternehmen, einer Bank und einem Sozialunternehmen beschäftigt – warum sind Sie in die Politik gewechselt?

Ich war schon 25 Jahre lang ehrenamtlich im Gemeinderat beziehungsweise im Kreistag tätig, bevor ich Berufspolitiker wurde. Mich hat gereizt, auf diesem Weg mein Umfeld, meine Heimat mitzugestalten.

Dabei gilt Politik oft als schmutziges Geschäft. Teilen Sie den Eindruck?

Nein, den teile ich nicht. Der Ruf der Politik ist nicht immer gut, das stimmt. Und wir müssen gute Leute für die Politik gewinnen. Ich glaube aber nicht, dass die Politik anders funktioniert als andere gesellschaftliche Bereiche. Schwarze Schafe gibt es in allen Berufen. Politik hat einen dienenden Charakter. Der innere Antrieb muss immer sein, für die Menschen und nicht für sich selbst zu arbeiten.

Politik funktioniert aber nicht durch Dienen, sondern durch das Ausüben von Macht. Wie passt das zusammen?

Ich mag den Begriff Macht nicht, weil er oft mit Machtmissbrauch verbunden wird. Ich spreche lieber von Einfluss. Politik braucht Einfluss, um etwas gestalten zu können. Macht im positiven Sinn überträgt der Wähler dem Politiker, damit dieser versucht, versprochene Dinge umzusetzen. Diese Macht ist nur auf Zeit und steht bei jeder Wahl neu auf dem Prüfstand. Sie bezieht sich immer auf den klaren Rechtsrahmen unserer Verfassung. Das gehört zum Wesentlichen der Demokratie. Manche Extremisten wollen diesen Rechtsrahmen abschaffen oder bedrohen ihn.

Was zeichnet einen guten Politiker aus?

Ein Politiker muss wissen, was Menschen denken. Er muss gut informiert sein und sich selbst immer wieder hinterfragen. Es ist nicht gut, mit dem Zeitgeist zu surfen. Er selbst sollte ein Koordinatensystem haben und seine Haltung authentisch leben. Ich halte nichts davon, sich in der Politik zu verstellen. Man sollte sagen, was man denkt, und tun, was man sagt. Ich glaube, dass wir in der Politik gut erklären müssen, wie wir abwägen, was uns wichtig ist und wie wir zu Entscheidungen kommen.

Wie erklären Sie es sich, dass Angela Merkel für ihre Politik mitunter scharf kritisiert wurde, sie aber bis zuletzt die mit großem Abstand beliebteste Politikerin im Land war?

Die Menschen nehmen Angela Merkel ab, dass sie dem Land dienen will und es ihr nicht um sich selbst geht. Sie ist unprätentiös. Die Bevölkerung erkennt bei ihr an, dass sie unaufgeregt mit Besonnenheit und Pragmatismus vorgeht und sie krisenfest mit einer bestimmten Haltung arbeitet und damit auch Orientierung gibt.

Woher nehmen Sie Ihren inneren Kompass?

Aus dem christlichen Menschenbild. Der Glaube gibt einem ja immer wieder Hoffnung und Zuversicht, aber auch Demut. Die Einsicht, dass es etwas Höheres gibt, hilft zu erkennen, dass man selbst nicht das Maß aller Dinge ist. Auch wenn das manche nicht so hören wollen: Aus den Lehren der Bergpredigt ist im Abendland vieles abgeleitet worden. Die Einsicht in die Unverwechselbarkeit des Menschen in all seiner Unterschiedlichkeit bedeutet für die Politik, nicht alle gleichzumachen, aber allen die gleichen Chancen zu bieten.

Fotos: Marius Jacoby

Wie kommen Sie aber im schnelllebigen Alltag eines Ministers dazu, so etwas zu reflektieren?

Die Anlässe suche ich mir durch bestimmte Termine, ein ausgewähltes Buch oder die Predigt sonntags in der Messe. Ich gehe regelmäßig zu Beginn des Jahres mit einigen Kolleginnen und Kollegen aller Parteien für einige Tage ins Kloster Maria Laach. Dort kann ich innehalten und überlegen, was im neuen Jahr wichtig wird.

Wie fühlt es sich an, politisch erfolgreich zu sein?

Natürlich fühlt es sich gut an, wenn man etwas durchsetzen konnte oder in einem Ort sieht: Ja, das haben wir geschafft. Aber im letzten Ende geht es immer um die Sache. Erfolg ist ja ein Antrieb für jeden Menschen, sei es in der Politik, der Wirtschaft, im Sport oder anderen Berufen. Sonst würde Wettbewerb nicht funktionieren.

Und was war Ihr größter politischer Erfolg?

Das war vermutlich die Restrukturierung der Nord/LB, die durch Schiffskredite in eine schwierige Lage geraten war. Ein sehr komplexes Thema und dickes Brett. Ich weiß noch, wie ich mich mit den Akten zwischen Weihnachten und Silvester 2018 in meinem Büro eingeschlossen habe, um eine Strategie zu entwickeln. Wir mussten mit Institutionen wie EZB und EU klären, ob unser Modell als tragfähig eingeschätzt wurde, und wir mussten Gesellschafter finden, die viel Geld geben. Dass das Ende 2019 geklappt hat, war sicher ein großer Erfolg.

Und was war Ihr größter Misserfolg?

Ich glaube, dass wir in der Corona-Pandemie nicht schnell genug geeignete Lösungen gefunden haben, unsere alten Menschen ausreichend zu schützen. Der Gedanke an die Verstorbenen und einsamen Menschen in Altenheimen treibt mich um. Da hat es durchaus Fehler gegeben. Daneben gibt es eine riesige politische Enttäuschung: Das ist das Verhalten osteuropäischer EU-Staaten wie Polen und Ungarn zum Beispiel. Diese Länder sind in besonderer Weise in die EU gedrängt, weil sie die Unterdrückung des früheren Ostblocks hinter sich lassen wollten und sich in der EU Frieden und Freiheit versprochen haben. Ich habe wenig Verständnis dafür, dass die Regierungen dort heute nationalistische und antieuropäische Töne anschlagen.

Ihre Kollegen bei der EU machen aber nicht den Eindruck, als wenn Sie dagegen ein geeignetes Mittel in der Hand hätten. Wie gehen Sie mit Hilflosigkeit um?

Hilflosigkeit kann ich nur schwer akzeptieren. Ich gehöre zu denen, die in das Gelingen verliebt sind, und denke immer in Chancen. Ich beklage mich selten, wenn wir für etwas keine Mehrheiten bekommen haben. Dann sage ich in der Regel: Entweder waren unsere Argumente nicht gut genug, wir waren nicht hartnäckig genug oder wir haben es nicht gut genug erklärt. Das hört sich schön an. In der praktischen Politik stoßen Sie aber naturgemäß an Grenzen.

„Es ärgert mich, dass zunehmend Menschen ihre Partikularinteressen absolutsetzen, aber das Große und Ganze nicht in den Blick nehmen wollen.“

Was sagen Sie zum Beispiel Landwirten, die sich von Regelungen der EU und der politischen Forderungen hierzulande in die Zange genommen fühlen?

Wenn ich Bauernhöfe besuche und in die Gesichter der Landwirte schaue, sehe ich ihre existenziellen Bedrängnisse. Diese Dramatik ist in der Bevölkerung und bei Entscheidern noch gar nicht überall wirklich verstanden. Denn mit den Bauernhöfen steht und fällt auch unsere Lebensmittelversorgung in Deutschland. Wir müssen noch viel stärker ein allgemeines Problembewusstsein schaffen. Hilflosigkeit zu signalisieren, wäre falsch. Im Gegenteil: In einer zunehmend unübersichtlichen Welt ist es auch Aufgabe der Politik, Orientierung zu bieten. Für die Landwirte bedeutet das, dass wir Wege finden müssen, wie sie die ökologischen und ethischen Anforderungen der Gesellschaft an sie erfüllen können aber dabei wettbewerbsfähig bleiben. Politik sollte nicht so tun, als hätte sie sofort die Lösung parat. Sie sollte aber in der Lage sein, mit den Landwirten zusammen Lösungen zu entwickeln.

Und wie soll so etwas gelingen?

Die Kunst in der Politik liegt oft in einem guten Mittelweg zwischen zwei berechtigten Ansprüchen. Es ärgert mich, dass zunehmend Menschen ihre Partikularinteressen absolutsetzen, aber das Große und Ganze nicht in den Blick nehmen wollen. Manche Äußerungen von Klimaaktivisten gehen in diese Richtung.

Sie halten also die Forderungen von Fridays for Future für falsch?

Nein, ich stehe absolut zu den Klimazielen von Paris. Und wir müssen dem Klimawandel adäquat begegnen. Wir können in Deutschland unseren Beitrag zum Schutz des Klimas mit den ein bis zwei Prozent am weltweiten CO2-Ausstoß nur leisten, wenn wir wirtschaftlich erfolgreich bleiben. Daher ist es sinnvoller, wenn wir als Industrieland neue Technologien entwickeln, die in vielen anderen Ländern einen entsprechenden Beitrag leisten können. Wie gesagt, ich bin in das Gelingen verliebt. Und hier könnte ein guter Mittelweg langfristig der beste Weg sein.

Interview: Rainer Middelberg
Fotos: Marius Jacoby

Verhandlungsführer der Bundesländer

Reinhold Hilbers, geboren 1964 in Lingen, hat Groß- und Außenhandelskaufmann gelernt und Betriebswirtschaft studiert. Bevor er 2003 niedersächsischer Landtagsabgeordneter wurde, war er Verwaltungsleiter bei der Lebenshilfe Nordhorn. Als Verhandlungsführer der Bundesländer verhandelt er mit den Gewerkschaften den Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst – einer der wichtigsten Tarifkonflikte aktuell für rund 3 Millionen Mitarbeitende. Hilbers ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Die Familie lebt in Wietmarschen-Lohne.

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