
Nachgedacht
Freude und Handeln
Kohelet 9,2-10
Es begegnet dasselbe dem einen wie dem andern: dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen; dem, der opfert, wie dem, der nicht opfert. (…) Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, die Toten aber wissen nichts. (…) So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn bei den Toten, zu denen du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit.
Der Tod als Sauerteig fürs Leben
Der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir sehr oft und sehr schnell, vielleicht zu schnell, in Verkündigung und Seelsorge bei der österlichen Auferstehung sind. Nehmen wir den Tod eigentlich ernst? Braucht es nicht eine stärkere Profilierung des Karsamstags, der Erfahrung der Gottesferne, der Verlassenheit, der Zerstörung, des Abbruchs, des Hinabstiegs in das Reich der Toten?
Der Tod ist ein Drama für das Leben. Er ist wohl das Drama unseres Lebens. Gleichwohl gelingt es uns in der alltäglichen „Ausübung“ unseres Lebens in der Regel ganz gut, dieses Drama auszublenden. Ich lebe ja schließlich derzeit; und solange ich lebe, ist der Tod nicht da bzw. ist mein Tod nicht da (und wenn der Tod da ist, dann bin ich nicht mehr da). So tröstete sich jedenfalls der griechische Philosoph Epikur um 300 v. Chr. über das Drama von Leben und Tod hinweg. Dass diese Sichtweise allerdings kaum weiteres Fragen oder Hadern zu verhindern vermag, spürt jeder Mensch spätestens dann, wenn der Tod eines nahestehenden Menschen in das eigene Leben einbricht. Dann ist der Tod nämlich sehr wohl da – auch in meinem Leben.
r stürzt das Leben in eine tiefe Krise. Seine unerbittliche Unausweichlichkeit schockiert und schmerzt. Er zwingt uns zur Auseinandersetzung. Wohin uns diese Auseinandersetzung führt bzw. was sie in uns bewirkt, ist freilich offen und kann unterschiedlich beantwortet werden. Eine Option wäre eine Sichtweise von einem Leben, in dem der Tod so etwas wie Sauerteig ist. Er ist das Triebmittel zur Lockerung von Backwerk und macht Roggenteige überhaupt erst backfähig. Sauerteige verbessern Verdaulichkeit, Aroma, Geschmack, Haltbarkeit und Konsistenz der Backwaren. Zudem werden ernährungsphysiologische Eigenschaften verbessert. Vielleicht hat die Auseinandersetzung mit dem Tod viel mit einem Sauerteig gemeinsam. Im besten Fall durchsäuern dann Erfahrungen von Sinnlosigkeit und Verzweiflung unser Leben. Sie sind für das Leben, seine Verdaulichkeit, sein Aroma und seinen Geschmack so notwendig wie der Sauerteig für das Brot. Vielleicht können sie unsere lebensphysiologischen Eigenschaften verbessern, indem sie uns zu mehr Tiefe, Weite, Bewusstheit und Gelassenheit verhelfen?
Zwei Beispiele seien hier angedeutet. Der französische Philosoph Michel de Montaigne hat sich sehr intensiv mit Tod und Leben auseinandergesetzt und entwickelte in seinem Essay „Philosophieren heißt sterben lernen“ einen Gegenentwurf zu Epikur. Die höchste menschliche Vollendung gewinnt man Montaigne zufolge durch die seelische Vorbereitung auf das Ende. Sokrates war ihm dabei das bewunderte Vorbild, denn jeder Tod muss seinem Leben gleichen, meinte Montaigne. Der Tod sei die letzte und große Bewährung des Menschen. Haben wir standhaft und ruhig zu leben gewusst, so werden wir ebenso zu sterben wissen. Dabei sei es nicht der Tod, der den Menschen beunruhigt, sondern das Sterben. Wer die Menschen lehren würde zu sterben, der würde sie lehren zu leben. Es komme darauf an, bereit zu sein. Denn alles, was geschehen kann, könne noch heute geschehen. Für Montaigne ist die Besinnung auf den Tod die Besinnung auf die Freiheit zu einem gelassenen Leben. Sterben zu wissen, befreie uns von aller Unterwerfung und allem Zwang. Ob es dabei ein Leben nach dem Tod gibt, hat Montaigne in seiner philosophischen Arbeit ausgeblendet. Er hielt den Glauben für möglich, trennte ihn aber angesichts der Ferne und Unbegreiflichkeit Gottes strikt von der Sphäre der Vernunft.
Das zweite Beispiel kommt mit viel weniger Worten aus, als die imposant elaborierten Schriften Montaignes, bringen ihn dabei aber in gewisser Weise – vielleicht ungewollt – auf den Punkt. Es ist das Bilderbuch „Ente, Tod und Tulpe“ von Wolf Erlbruch, das 2010 als Kurzfilm verarbeitet und mehrfach ausgezeichnet wurde.
Die Handlung in Kürze: Eine munter durch das Leben laufende Ente hat plötzlich so ein Gefühl, als ob sie verfolgt wird. Sie bleibt stehen, wendet sich um und stellt den Verfolger zur Rede: „Wer bist Du und was schleichst Du hinter mir her?“ Er stellt sich vor: „Schön, dass Du mich endlich bemerkst. Ich bin der Tod.“ Im sich nun – nach anfänglichem Erschrecken – immer unbefangener entwickelnden Zwiegespräch wird deutlich, dass der Tod – ein mit seiner „Totenschädeligkeit“ vielleicht nicht hübscher, aber ungemein freundlicher und bedächtiger Genosse – die Ente schon ihr ganzes Leben hindurch begleitet.
Nun, nachdem die Ente ihn entdeckt hat, unternehmen sie gemeinsame Dinge, pflegen einen selbstverständlichen und entspannten Umgang miteinander und freunden sich immer mehr an. Sie unterhalten sich über die großen Fragen des Lebens; die Ente ist neugierig. Sie möchte vom Tod wissen, was denn nach dem Tod kommt. Sie habe gehört, dass gute Enten als Engel in den Himmel kommen und böse Enten zur Strafe tief unter der Erde in der Hölle gebraten werden. Der Tod weiß es zwar auch nicht, dennoch sind seine Antworten auf eigentümliche Weise anschlussfähig. Als Engel im Himmel? „Gut möglich! Flügel habt Ihr ja schon …“ Eine Hölle tief unter der Erde? „Seltsam, was Ihr Enten Euch so erzählt, aber wer weiß …“ Schließlich kommen Herbst und Winter, die einst so lustig-forsche und agile Ente wird zusehends müde und gebeugt.
Als sie in der immer unwirtlicher werdenden Natur zu frieren beginnt, bittet sie den Tod, von ihm gewärmt zu werden und stirbt friedlich in seinen Armen. Der letzte Akt des kleinen Büchleins bzw. Films: Der Tod trägt die Ente behutsam zum Fluss, legt sie vorsichtig aufs Wasser und schickt sie mit einem kleinen Stups zärtlich auf eine Reise stromabwärts auf dem Wasser gleitend. „Noch lange schaute er der Ente nach“, so heißt es zum Schluss. „Als er sie aus den Augen verlor, war der Tod fast ein bisschen traurig. Aber so war das Leben.“
Leben und Tod sind miteinander verbunden; der Tod verweist uns auf das Leben. Die Begegnung mit dem Tod verhilft dem Lebenden zu ungeahnten Einsichten. Ein Leben mit dem Tod bewahrt nicht vor mulmigen Gefühlen oder depressiven Anwandlungen. Es nimmt dem Tod aber den Schrecken und schenkt dem Leben viel Gelassenheit. Das Bilderbuch lässt offen, ob noch etwas nach dem Tod kommt. Der Tod weiß es auch nicht. Er sorgt nur für einen Übergang, er schickt die Ente auf die letzte Reise – wohin auch immer: Der Tod nicht als Ende, sondern als Übergang; der Tod nicht als Exitus, sondern als Transitus. Der von Michel de Montaigne so verehrte Sokrates soll es einmal so formuliert haben: „Niemand kennt den Tod; es weiß auch keiner, ob er nicht das größte Geschenk für den Menschen ist. Dennoch wird er gefürchtet, als wäre gewiss, dass er das schlimmste Übel sei.“
Text: Dr. Frank Buskotte
Dr. Frank Buskotte (Jg. 1973) studierte Geschichte, Katholische Theologie und Soziologie und war zunächst als Lehrer an einem Gymnasium tätig. Seit 2009 war er Direktor der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Osnabrück. Er starb 2021.
Illustration: Patrick Schoden