Fragestunde

"Das Größte, was ich in meinem Leben verloren habe, ist mein Urvertrauen."

Beklommenheit, Stille und heimlich verdrückte Tränen. Wenn Ella Anschein ihren Text „Armut“ vorträgt, kämpft das Publikum mit seinen Emotionen. Die Poetry-Slammerin steht für klare Sprache und klare Haltung

In Ihrem Stück Armut sprechen Sie darüber, was Armsein bedeutet und welche Folgen Armut hat. Wie persönlich ist der Text?

Das bin eins zu eins ich. Es gab dieses Gespräch mit meiner Mutter am Frühstückstisch, als ich sie einmal besuchte. Da haben wir zum ersten Mal bewusst und offen über unsere finanziell schwierigen Verhältnisse gesprochen.

Wie schwierig war dieses Gespräch?

Es hat bei uns beiden Dinge aufgewühlt, von denen wir uns gewünscht hätten, dass es damals anders gelaufen wäre. Es ist nicht so, dass wir etwas bereuen, aber es ist halt nicht immer möglich, das Beste aus einer Situation herauszuholen. Dabei geht es auch nicht nur um das Materielle, sondern um die sozial schwierigen Erfahrungen, die ich gemacht habe, weil das Materielle gefehlt hat.

Wie haben Sie die Armut in Ihrer Kindheit und Jugend erlebt?

Im Nachhinein würde ich sagen, ich bin in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen: mit einem Vater, der nicht da war, einer Mutter, die alleinerziehend mit vier Kindern war. Bei uns war eine Atmosphäre: „Okay, wir kriegen das irgendwie hin.“ Aber im Grunde war da einfach viel Überforderung.

Fühlten Sie sich als Jugendliche als Verliererin?

Nein, zum Glück nicht. Ich habe mich früh für Literatur und Politik interessiert, bin in der Schule immer gut mitgekommen, hatte gute Noten. Die schulische Anerkennung hat mir viel gegeben. Aber als Jugendliche habe ich gemerkt, dass andere Leute einen Halt in ihrem Leben haben, den ich nicht habe. Darunter habe ich sehr gelitten.

Was meinen Sie damit?

Das Größte, was ich in meinem Leben verloren habe, ist mein Urvertrauen. Dieses Gefühl, dass Sachen gut werden, dass ich mich auf das Schicksal verlassen kann, dass sich alles irgendwie fügen wird. Mit Psychotherapie arbeite ich daran, mir einen positiven Blick auf die Welt zurückzuholen – gar nicht, weil ich fatalistisch, negativ oder misanthrop wäre, sondern einfach, weil ich Dinge erlebt habe, die mich gelehrt haben: Sei vorsichtig, trau dem Frieden nicht.

Was hat Ihnen Ihr Urvertrauen genommen?

Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, habe ich in meiner Kindheit körperliche, aber vor allem psychische Gewalt im innerfamiliären Kontext erfahren und als Jugendliche und Erwachsene außerhalb der Familie mehrfach auch sexuelle Gewalt.

Sie sagen, Sie haben sich nicht als Verliererin gefühlt. Fühlten Sie sich denn von anderen als Verliererin abgestempelt?

Ich habe zumindest gemerkt, dass ich Gegenwind bekomme: Weil ich Dinge nicht hatte oder weil ich mich nicht so benommen habe, wie die gesellschaftliche Erwartungshaltung an ein Mädchen ist. Das liegt zum einen daran, dass ich nicht so viele Orientierungspunkte hatte, weil gewisse Dinge finanziell nicht möglich waren und ich keinen Vergleich hatte. Und zum anderen? Wenn man manchmal lieber Jungsklamotten trägt und gar nicht so sehr ein Mädchen ist wie andere, dann fällt man auf. Ich fühle nicht so geschlechterstereotypisch. Mein Queersein hat natürlich nichts mit den finanziellen Dingen zu tun. Aber dieses Anderssein – ob es nun die wirtschaftliche Dimension oder die Identitätsfrage war – das habe ich schon sehr gespürt.

Haben Sie Ihren Eltern damals Vorwürfe gemacht?

Nein. Was ich aber lange mit mir herumgetragen habe, ist die Frage: Warum lieben meine Eltern mich nicht? Das war eine große Verlusterfahrung für mich. Meine Mutter war psychisch sehr krank und ich habe als Jugendliche einfach nicht verstanden, warum sie so war, wie sie war. Zwischen meinem 15. und 20. Lebensjahr hatte ich keinen Kontakt zu ihr, bin damals von zu Hause ausgezogen. Mittlerweile konnte ich diese Frage gegenüber meiner Mutter auflösen, gegenüber meinem Vater nach wie vor nicht.

Fotos: Marius Jacoby

Ist diese neue Beziehung zu Ihrer Mutter ein Gewinn für Sie?

Gewinne können Verluste oft nicht ausgleichen. Das Gefühl, das meine Mutter mich liebt, und das Wissen, dass sie mir das durch ihre Krankheit nur nicht zeigen konnte, entschädigen. Aber egal, wie sehr man das als Erwachsener bearbeitet, bleibt diese verletzte Kinderseele.

Also einmal Verlierer immer Verlierer?

Es wäre schön, wenn ich sagen könnte: Nein, das stimmt nicht. Aber eine persönliche Verlierergeschichte, die kriegst du aus dir nicht raus. Studien belegen, wer Gewalt erfährt, hat ein höheres Risiko, noch einmal Gewalt zu erfahren. Wir dürfen das nicht ignorieren. Wir müssen uns als Gesellschaft die Frage stellen, wie wir damit umgehen. Dieser neoliberale Ansatz „Du bist deines Glückes Schmied“ kann nur in einer Gesellschaft stimmen, die die Chance gibt, herauszukommen und zu heilen.

Hatten Sie Menschen, die Ihnen geholfen haben?

Ich habe einige befreundete Familien, die mir sehr nahestehen. Da kann ich hinkommen und weiß, ich bin willkommen. Und natürlich meinen Freundeskreis. Ich weiß nicht, wie ich manches überstanden hätte, wenn ich diese Menschen nicht hätte.

„Wenn ich Schreibworkshops für Jugendliche gebe, sage ich immer: Denkt groß und außergewöhnlich.“

In dem Text „Armut“ sprechen Sie auch über Scham. Haben Sie sich als Kind geschämt?

Ich erinnere mich, dass ich mich oft unwohl, falsch und deplatziert gefühlt habe. Als Kind und Jugendliche konnte ich das aber nicht so benennen. Heute kämpfe ich gegen Schamgefühle. Sei es, indem ich mich auf die Bühne stelle und über Dinge rede, über die man sonst nicht redet. Oder dass ich wegen der Scham, die ich durch die sexuelle Gewalt empfunden habe, heute sehr frei mit meiner Sexualität umgehe. Dieser Widerstand gegen die Scham zeigt mir erst, wie verbohrt und schambesetzt vieles ist.

Mit welchem Anspruch schreiben Sie Ihre Texte?

Wenn ich Schreibworkshops für Jugendliche gebe, sage ich immer: Denkt groß und außergewöhnlich. Mein Ziel für den Text „Armut“ wäre eine komplette Änderung der Sozialgesetzgebung. Dass jeder, der diesen Text hört und in einer Position ist, wo er daran arbeiten kann, sagt: „Wir ändern, wie wir damit umgehen.“ Natürlich weiß ich, dass ich das nicht erreichen kann. Aber nur mit dem Anspruch, diese Welt zu verändern, kann ich diese Welt ertragen.

Und was glauben Sie, können Sie auf der Bühne bewirken?

Da muss ich sehr kritisch mit mir sein. Wenn ich auf einem Poetry Slam auftrete und etwas gegen Nazis sage, dann ist das gut und schön. Aber da sitzen keine Nazis. Was ich mindestens versuchen möchte, ist eine Identifikationsfläche zu schaffen, die Menschen in ihrem Leben stärken und bereichern kann. Das Maximale wäre, Menschen eine Möglichkeit zu geben, etwas in ihrem Leben zu verändern.

Haben Sie das einmal geschafft?

Das war eines der wichtigsten Feedbacks, die ich je bekommen habe. Ich habe mal einen Text über mein Babysitterkind geschrieben, das gerne über Mauern lief. Ein Jahr nach meinem Auftritt hat mir jemand gesagt: „Ich habe das damals gehört und seitdem lasse ich meiner Tochter auf dem Weg zur Kita die Zeit, über Mauern zu laufen.“ Vielleicht ist das das Größte, was ich bislang in meinem Leben geschafft habe.

Interview: Kerstin Ostendorf
Fotos: Andreas Kühlken

Auch Schauspielerin und Dramaturgin

Ella Anschein (25) wuchs in Bonn auf und begann schon in der Schule mit dem Theaterspiel. Mit elf Jahren schrieb sie im Deutschunterricht ihr erstes Gedicht. „Es war so ein bisschen, wie Laufenlernen“, sagt sie. Sie absolvierte ihre Schauspielausbildung an der Schauspielschule in Siegburg, ist als selbstständige Poetry-Slammerin unterwegs und gewann damit bereits mehrere Nachwuchspreise. Heute arbeitet sie als Dramaturgin am Schlosstheater Celle.

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