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Endlich Zeit für sich selbst

Der Vater alkoholabhängig, die Mutter zur Liebe unfähig, die eigene Ehe gescheitert. Silke Cipinski bricht im Februar 2020 mit schweren Depressionen zusammen. Doch die 50-jährige Erzieherin hat ihren Weg zurück ins Leben gefunden

Nein zu sagen, fällt ihr immer noch schwer. Vor ihrem Klinikaufenthalt sei das aber noch viel schlimmer gewesen. Ihr früheres Leben war „einfach Mist“, erzählt Silke Cipinski offen. Die ersten bewussten Erinnerungen an diesen „Mist“ reichen bis ins Alter von acht Jahren zurück: Der alkoholkranke Vater kann im Rausch weder Urin noch Kot halten. Silke will helfen und steckt die Kleidung in die Waschmaschine. Doch statt Lob zu erhalten, hagelt es Vorwürfe von der Mutter: „Warum hast du das nicht vorher grob gereinigt?“ Elterliche Liebe und Vertrauen erfährt sie offenbar nicht. Vielmehr wird ihr über Jahre hinweg eingetrichtert: „Du bist nicht gut genug. Du warst sowieso nicht gewollt.“ Selbstvertrauen kann sie unter diesen Bedingungen nicht entwickeln.

Mit 18 Jahren verliebt sich Silke Cipinski. Bald heißt es von der Mutter: „Den nimmst du jetzt. Einen Besseren findest du eh nicht.“ Und folglich wird mit 20 Jahren geheiratet. 1995 und 1998 kommen ihre Söhne auf die Welt; der jüngere leidet an einer seltenen Chromosom-Mutation, ist Autist, geistig behindert und pflegebedürftig. Der Vorwurf ihres Mannes „Das ist deine Schuld“ macht es noch schlimmer. Die Ehe wird zur jahrelangen Zweck-WG. Silke Cipinski funktioniert nur noch, arbeitet im Kindergarten, fördert ihre Kinder. „Nur mich selbst habe ich total vergessen.“ Ende 2019 endlich trennt sie sich von ihrem Mann. Sie verliebt sich Hals über Kopf neu und will zu ihrem neuen Partner nach München ziehen. Der aber bekommt kalte Füße und verlässt sie.

Das eigene Wohl ganz aus den Augen verloren

„Da bin ich endgültig in den Brunnen gefallen.“ In wenigen Wochen verliert Silke Cipinski viel Gewicht und kämpft mit schweren Depressionen. Ihre Freundin schließlich treibt sie zum Arzt. Psychiater Marc Eilers, Chefarzt der Niels-Stensen-Kliniken Bramsche, eröffnet ihr, dass ein Klinikaufenthalt von sechs bis acht Wochen nötig sei. „Da bin ich in Panik geraten. Ich musste mich doch um meinen jüngeren Sohn kümmern“, erinnert sie sich. Und das, obwohl der doch längst gut versorgt in einer Pflegeeinrichtung lebt. Endlich willigt Silke Cipinski ein.

„Ganz am Anfang habe ich viel geweint“, berichtet sie ohne Scheu. Langsam versteht sie, wie sie sich von anderen hat treiben lassen und ihr eigenes Wohl ganz aus den Augen verloren hat. „Um das zu erkennen hat mir Herr Eilers auf liebevolle aber strenge Art in den Hintern getreten.“ In der Klinik gewinnt Silke Cipinski Vertrauen in die Situation, in die Therapeuten  und schließlich in sich selbst. Schon nach vier Wochen ist sie so stabil, dass sie die Klinik verlassen kann. „Die Schübe der Depression kommen immer mal wieder“, sagt sie. Dank der Hilfe von außen gehe es ihr aber deutlich besser. „Ich kann meine Dankbarkeit gar nicht in Worte fassen.“

Mit Achtsamkeitsübungen in eigenen Körper hineinlauschen

Heute lebt Silke Cipinski in Borgloh im Landkreis Osnabrück. Ihre Wohnung liegt direkt am Wald, den sie als Ort der Erholung besonders schätzen gelernt hat. Vom Balkon aus öffnet sich der Blick über die Hügellandschaft des Teutoburger Waldes. Eine friedliche Atmosphäre. Und ein Ort, um die eigene Lebensgeschichte neu einzuordnen: „Die Depression war das Beste, was mir passieren konnte.“ Zumindest der konstruktive Umgang mit der Erkrankung hat ihr den Weg gewiesen. „Für mich war es ein Geschenk, als ich wieder als Erzieherin arbeiten und die Verantwortung für 25 Kinder übernehmen konnte. Die Kolleginnen und die Leitung meiner Kita haben mich super aufgenommen.“

Endlich ist die eigene Wohnung auch ein wirkliches Zuhause. Und statt sich nur um andere zu kümmern, nimmt sie sich Zeit für sich selbst. „Mir ist es wichtig, mir selber etwas Gutes zu tun, ein Buch zu lesen, Hörbücher oder Musik zu hören.“ Fast täglich mache sie Achtsamkeitsübungen; das können fünf Minuten oder eine halbe Stunde sein. „Bei diesen angeleiteten Übungen achte ich auf meinen Körper, lausche in mich hinein und kann damit zur Ruhe kommen.“

Großes Selbstvertrauen habe sie noch heute nicht, sagt Silke Cipinski. Dass sie mit ihrer Erkrankung aber so offen umgeht, spricht Bände. Ihre Eltern starben 2013 innerhalb von fünf Wochen. Beide hatte sie gepflegt. Mit ihrem Vater hatte sie sich noch am Sterbebett ausgesprochen. Von ihrer Mutter hingegen wurde sie ebendort noch angelogen. Der Stachel sitzt tief. Und dennoch: Der Hass auf die Mutter ist in Wut gewandelt; er ist ein Teil der alten Geschichte. „Jetzt schaue ich nach vorn. Ich hänge am Leben und bin dankbar über den guten Draht zu meinen Jungen.“

Text: Rainer Middelberg

Foto: Hermann Pentermann

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