Fragestunde

"Ich kann es nicht ertragen, wenn Menschen ungleich behandelt werden."

2015 setzte sie sich in einem Tagesthemen-Kommentar für Flüchtlinge ein, forderte ein Ende von Hass und Hetze. Jeder müsse den Mund aufmachen, sagte Anja Reschke damals. Die Journalistin zeigt Haltung – auch wenn sie dafür angegriffen wird

Sie sind bekannt für pointierte Moderationen und knackige Kommentare. Wie nähern Sie sich den Themen, die Sie aufgreifen?
Für mich war immer vollkommen klar, dass ich als Journalistin für etwas stehe: nicht für eine linke oder rechte Ideologie oder eine Parteiausrichtung, sondern für progressive Werte. Das Gefühl, wie ich zu einem Thema stehe, muss sich aber entwickeln. Ich muss darüber nachdenken, das abwägen und mit meinen Wertvorstellungen überprüfen. Es dauert ein bisschen, bis ich meine Haltung zu einem Thema entwickelt habe.

Was macht Ihre Haltung aus?
Ach, das klingt immer so abgedroschen, aber mir sind Toleranz und Gerechtigkeit sehr wichtig. Ich kann es nicht ertragen, wenn Menschen ungleich behandelt werden. Das ist mein absoluter Triggerpunkt. Das gilt auch für mich selbst: Bevor ich ein Urteil fälle, frage ich mich, ob die andere Seite einen Punkt haben könnte. Warum denkt der so? Warum verhält sie sich so? Ich bin ganz schön lange tolerant, bis ich sage: Hier ist eine Grenze.

Wo sind für Sie diese Grenzen erreicht?
Ich bekomme viel kritische Post von Zuschauern. Oft schreiben mir Menschen, die politisch völlig anderer Meinung sind als ich und die mich auch beschimpfen. Solange das nicht komplett unflätig wird, finde ich das alles okay. Aber in dem Moment, wo Bevölkerungsgruppen, Ethnien oder Minderheiten pauschal abgewertet werden, ist für mich Schluss. Das Abwerten der einen bedeutet ja auch immer, dass man sich selbst aufwertet. Das ist für mich ein rotes Tuch.

Wie zeigt sich dann Ihre Haltung?
Gerade bei niedermachenden und aggressiven Zuschriften hat man natürlich erst mal den Impuls, genauso hart zurückzuschreiben. Man wird ja angegriffen. Und dann sage ich mir jedes Mal: Nein! Das ist wie ein Stoppschild in mir. Ich möchte so nicht werden. Ich möchte nicht so sein wie du. Es ist leicht, genauso aggressiv zu antworten, aber es ist doch viel cooler, sachlich zu antworten.

„Ich glaube, genau das ist der Witz an Haltung: Sie ist immer da, sie
zeigt sich in jeder Handlung, in jedem Gedanken, in jeder Aktion.“

Bei welchen Themen ist es Ihnen noch besonders wichtig, sich zu positionieren?
Ich bin eine Frau und ich arbeite in einer gehobenen Position – natürlich ist das Thema Feminismus, die Gleichbehandlung von Frauen im Beruf und in der Gesellschaft etwas, das mich extrem umtreibt. Mir fällt schon auf, wenn ich in einer Runde bin, in der wieder nur Männer sind, oder wenn in Sendungen oder Beiträgen nur männliche Experten auftauchen. Alle sagen, dass Frauen gefördert werden sollen, es ist besser geworden, aber trotzdem vollzieht sich das ganz schön langsam. Deshalb muss man immer wieder darauf aufmerksam machen. Aber ich würde nicht sagen, dass es nur solche Themen sind, die meine Haltung herausfordern.

Sondern?
Naja, im Prinzip muss sich Haltung jeden Tag beweisen. Also bei Alltagsthemen, wie reagiere ich, wenn morgens in der Teeküche schmutzige Tassen stehen, genauso wie bei großen Fragen, etwa, sollen wir mehr Waffen an die Ukraine liefern. Ich glaube, genau das ist der Witz an Haltung: Sie ist immer da, sie zeigt sich in jeder Handlung, in jedem Gedanken, in jeder Aktion.

Haben Sie ein Beispiel?
Wenn ich behaupte, ich sei ein toleranter Mensch, dann wird diese Haltung herausgefordert, wenn der Nachbar bis nachts um drei eine laute Party feiert. Bin ich dann wirklich tolerant? Halte ich diese Haltung sozusagen durch? So lange nichts passiert, kann man leicht behaupten, tolerant zu sein. Aber habe ich, wenn es hart auf hart kommt, dann wirklich die innere Haltung zu sagen: Okay, dann viel Spaß beim Feiern? Nur dann ist es nämlich wahre Haltung und nicht bloße Attitüde.

Fotos: Michael Hagedorn
2015 haben Sie sich mit einem Kommentar in den Tagesthemen für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen. Mit einer solchen Position ziehen Sie auch Hass auf sich. Wie gehen Sie damit um?

Abgesehen davon, dass Hasskommentare nicht besonders angenehm sind, kann ich daran meine Haltung überprüfen. Wie stark bin ich in meiner Haltung? Halte ich meine Position durch? Ist es wirklich eine innere Überzeugung – oder ist es gerade nur en vogue sich für Flüchtlinge einzusetzen? Der schwierige Moment damals waren auch nicht die Hasskommentare, sondern Silvester 2015/16.

Als junge arabische und nordafrikanische Männer am Kölner Hauptbahnhof und auf dem Domplatz Frauen belästigten und sexuell bedrängten.
Ja. Ich habe in meinem Tagesthemen-Kommentar gesagt, dass wir den Flüchtlingen mit der gleichen Offenheit begegnen müssen, mit der wir uns gegenseitig begegnen. Auf einmal fragt man sich: Stimmt es, was ich da sage? Ist diese Offenheit richtig? Ich verurteile Belästigung, Diebstahl, sexuelle Übergriffe, und obwohl ich das kriminell und schlimm finde, sage ich, wir müssen offen sein – auch Fremden gegenüber. Das ist die Herausforderung.

Kennen Sie Momente, in denen eigentlich Haltung gefragt wäre, Sie sich aber gerne wegducken würden?
Klar. Jedes Mal, wenn es darum geht, wer seinen Mund aufmacht. Auch das beginnt ja im Kleinen: Im Kollegenkreis reißt einer einen blöden Spruch über jemanden. Sage ich etwas oder sage ich nichts? Natürlich hat das bei jedem Menschen – auch bei mir – etwas damit zu tun, in welcher Verfassung man gerade ist. Bin ich heute stark oder nicht? Aber ich habe für mich festgestellt, dass ich nicht gut damit klarkomme, wenn ich meine Haltung unterdrücke.

Was denken Sie über Menschen, die lieber schweigen?
Ich verurteile niemanden. Aber ich wundere mich immer wieder, wie mutlos Menschen oft sind, gerade in Situationen, in denen ihnen nichts passieren kann. Ich ärgere mich dann, wenn ich etwas gesagt habe, und anschließend kommen Leute zu mir und sagen: Ja, du hast Recht gehabt. Dann denke ich: Sagt es doch gleich selbst!

Glauben Sie, dass Ihre Haltung bei anderen etwas verändern kann?
Nein, ehrlich gesagt nicht. Viel entscheidender ist auch, dass eine Gesellschaft die Möglichkeit haben muss, sich zu vergewissern, wofür sie steht. Dafür braucht sie Stimmen. Das kann eine Journalistin sein, die das öffentlich im Fernsehen macht. Das kann aber genauso gut eine Religionslehrerin in einer Klasse sein.

Interview: Kerstin Ostendorf
Fotos: Michael Hagedorn

Ausgezeichnete Journalistin

Anja Reschke (49) studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Sozialpsychologie in München. Nach einem Volontariat beim NDR und der Arbeit als freie Autorin, moderiert sie seit 2001 das Fernsehmagazin „Panorama“.
Sie erhielt mehrere Journalistenpreise und wurde 2015 als Journalistin des Jahres ausgezeichnet. Seit 2019 leitet sie den Programmbereich Kultur und Dokumentation des NDR. Anja Reschke lebt in Hamburg, ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.

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