Nachgedacht

Vom Wachsen der Saat

Mk 4,26-28
Er sagte: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht
wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie.

Gute Nachrichten bewusst wahrnehmen

Vor kurzem stand ich vor einer Toilettentür im Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg. Ich nahm mir einen Moment Zeit, mir all die Veranstaltungshinweise auf der Innenseite der Tür anzuschauen. Sie war plakatiert mit Veranstaltungen der Initiative „last generation“ Die Aktivisten verstehen sich als die letzte Generation, die noch einen direkten Einfluss auf den Klimawandel in der Welt nehmen kann. Ihre Aktionen sind nicht selten vom Mut der Verzweiflung begleitet, weil sie realisiert haben, dass wir als Weltgemeinschaft kurz vor gefährlichen Kipppunkten des Klimawandels stehen, die uns sehr ernste Sorgen machen müssen und die ohne mutiges und entschiedenes Handeln überall auf der Welt nicht mehr beherrschbar sein werden. Das ist das klare Statement der Wissenschaftscommunity. Sie und „last generation“ haben sich hier eindeutig positioniert. Zudem befinden wir uns immer noch in einer Pandemie, die seit über zwei Jahren unglaublich viele Menschen das Leben gekostet hat, und seit dem 24. Februar sind wir Zeugen eines schrecklichen völkerrechtswidrigen Angriffskrieges in Europa. In diesen existenziellen Krisen sind wir gefragt, uns zu positionieren, und die Art und Weise wie sich Menschen und Gesellschaften positionieren, hat weitreichende Auswirkungen.

Wir müssen uns die Frage stellen, was die Summe der Krisen, die uns wie nie zuvor medial in Text, Bild und Ton im Minutentakt erreichen, mit uns macht und woher die Kraft zum Bestehen dieser Krisen kommen kann. Insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen lässt sich derzeit eine Welle von psychischen Störungen und Erkrankungen beobachten. Wie positionieren wir uns in all dem?
Eine Position einzunehmen, erschöpft sich nicht darin, für oder gegen etwas zu sein. Sie ermöglicht zunächst etwas zu sehen und lässt uns gleichzeitig anderes nicht sehen. Sich zu positionieren heißt also auch immer, sich zu entscheiden, was ich sehen will. Als Mediennutzerinnen und -nutzer sind wir unvermeidlich mit vielen Angst und Sorgen auslösenden Nachrichten konfrontiert. Aus eigener Erfahrung, die durch die Erkenntnisse der Psychologie gestützt wird, wissen wir: Wenn sich unsere Gedanken ständig um existenzielle Probleme drehen, wird es immer schwieriger Gutes wahrnehmen zu können. Seit einigen Jahren forscht die Psychologie zu diesem Phänomen und kommt zum Ergebnis: Wenn sich unsere Weltwahrnehmung erst einmal so fokussiert hat, verstärkt sich in uns wie von selbst die Wahrnehmung von dem, was uns Sorgen bereitet.
Die Ursache liegt in der Funktionsweise unseres Gehirns. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich im Zweifelsfall automatisch auf Negatives und Gefahrvolles. Bei guten Dingen ist dieser Automatismus weniger ausgeprägt. Nüchtern betrachtet wäre ein Korrektiv angebracht. Eine sinnvolle ergänzende Positionierung zum Alltag und zum Weltgeschehen könnte heißen: Ich achte bewusst auf die guten, freudvollen, liebevollen Erfahrungen in meinem Alltag. Wenn ich Positives und Negatives „fair“ wahrnehmen will, müsste ich mich genau darin bewusst üben, damit auch die positiven Teile des Alltags „gleichberechtigt“ mein Denken und Fühlen erreichen.

Wie geht das? Ich entdecke es immer wieder bei Jesus aus Nazaret. Er stellt sich den Krankheiten und dunklen Kräften seiner Zeit. Er stellt sich den religiösen Machthabern und am Ende dem Tod. Aber daneben hat er einen durchweg positiven Blick auf die Welt, in der er das Reich Gottes unter den Menschen als lebensschaffende Kraft sieht. Er sieht das Reich Gottes im Sauerteig, im Salz, im Licht, in den verlorenen Dingen, die wiedergefunden werden, in den Lilien auf dem Feld, in der Sonne, die aufgeht über Gerechten und Ungerechten, in der Saat, im Acker und in den Früchten.
Im Gleichnis von der selbstwachsenden Saat vergleicht er das Reich Gottes in Mk 4,26-28 mit einem Menschen, der den „Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie.“ Neben dem Guten, dass wir durch unser Handeln in die Welt bringen, gibt es unendlich viel Gutes, das einfach geschieht – und wir wissen nicht wie.
Wenn wir uns ausruhen, wenn wir schlafen, ohne dass wir etwas tun müssen, sind wir erfrischt und haben neue Kraft – ohne, dass wir aktiv etwas dafür hätten tun müssen. Wir brauchen einen ergänzenden Blick für diese Seite des Lebens, für die Resilienz des Lebens und seine Heilkräfte. Hildegard von Bingen spricht von der Viriditas (lat. viridis = grün). Sie sieht sie als eine Grundkraft, die der gesamten Natur, also Menschen, Tieren, Pflanzen und Mineralien innewohnt. Sie ist nach Ansicht von Hildegard die Grundlage von Heilung. Im Laufe der Geschichte haben immer und überall Menschen mit ähnlichen Augen wie Jesus von Nazaret oder Hildegard von Bingen auf die Welt geschaut und sie konnten die Welt aus dieser Kraft heraus verändern. Diesen Blick manchmal bewusst zu unserem eigenen werden zu lassen, wäre eine dringend notwendige Ergänzung unserer Positionierung in einer Welt zwischen Klimawandel, Pandemie und Krieg. Es geht nicht darum, irgendetwas davon zu beschönigen oder zu verdrängen. Es geht darum, die Augen für die ganze Wirklichkeit zu öffnen. So könnte ein Glaube wachsen, der sich mit Blick auf die Wirklichkeit bewährt und etwas sieht und handeln lässt, das die Welt zum Guten verändert.

Karl Rahner, einer der größten katholische Theologen des 20. Jahrhunderts, kam von einer Reise in die USA freudestrahlend mit einem Button zurück, den er auf einem von der damaligen Hippie-Bewegung angeregten Flohmarkt erworben hatte. Darauf war zu lesen: „A mans best friend is his dogma.“ „Dogmatisch“ sind für die meisten Menschen Verhaltens- und Aussageweisen, die dem realen Leben widerstreben oder dafür einfach untauglich sind. In der landläufigen Sicht zählen Dogmatiker zu jenen, von denen man annehmen muss, dass sie die Wirklichkeit ihrer Ideologie anpassen und das Leben sie hoffentlich irgendwann dafür bestraft.
Dogma bedeutet von Haus aus aber lediglich Meinung, die beansprucht, etwas zu sagen zu haben – mehr nicht. Dogma ist eine Standpunktbildung in juristischen, politischen, theologischen oder in philosophischen Zusammenhängen und hat seinen schlechten Ruf erst in den vergangenen Jahrhunderten durch manchen Dogmatismus – nicht zuletzt der katholischen Kirche – bekommen. Dogma, begriffen als grundlegende Standpunktbildung: „A mans best friend is his dogma!“ Eine solche Art von Positionierung könnte in dieser aufgewühlten Welt auch bedeuten, abends einmal auf den Tag zurückzuschauen und nachzuspüren, was ich an Positivem wahrgenommen habe und wofür ich vielleicht auch dankbar bin.
Diesen Blick zu schulen, heißt, den Blick auf das Reich Gottes zu schulen. Er erschließt einen Teil der Wirklichkeit, für den wir Dankbarkeit empfinden können, wenn wir nur hinschauen – der im Herzen weiterklingt und manchmal einen Zusammenhang erkennen lässt, in dem sich Sinn und das Gefühl eines sinnvollen Lebens ausbreiten: mitten in dieser gebeutelten, missbrauchten, einzigartigen und wunderschönen Welt.

 

Text: Michael Hasenauer

Michael Hasenauer leitet als Hochschulseelsorger die Kath.Hochschulgemeinde Lüneburg. Er ist geistlicher Begleiter und Berater.

Illustration: Patrick Schoden