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Mit den Gedanken woanders

Erst Corona, jetzt der Krieg in der Ukraine: Die Krisen belasten die Schülerinnen und Schüler. Sie haben Angst und machen sich Sorgen. Wie können Lehrerinnen und Lehrer damit umgehen? Ein Besuch an der Anne-Frank-Realschule in Ibbenbüren

Die Sonne brennt, nur manchmal weht ein lauwarmer Wind. Es ist der erste Sommertag in diesem Jahr. Paul, John, Ensar und Kamil haben sich in eine schattige Ecke des Schulhofs zurückgezogen. Heute ist genau das richtige Wetter fürs Schwimmbad oder für einen Grillabend mit Freunden. Endlich ist all das wieder möglich – ohne über Maskenpflicht, Schnelltests oder Impfzertifikate nachdenken zu müssen.

„Corona war eine schwere Zeit für uns“, sagt der 14-jährige Ensar. „Klar, haben wir verstanden, dass es zu gefährlich gewesen wäre, in die Schule zu gehen und alle zu treffen. Aber es war auch echt langweilig. Wir wurden einfach eingesperrt“, sagt er. Sein Freund Paul stimmt ihm zu. Am Anfang sei es ja ganz cool gewesen, zu Hause bleiben zu können. „Aber dann war es der immer gleiche Ablauf, immer die gleiche Situation, jeden Tag“, sagt der 14-Jährige. Die vier Jungs besuchen die neunte Klasse der Anne-Frank- Realschule in Ibbenbüren. An der städtischen Schule werden rund 300 Kinder unterrichtet. Die Pandemie neigte sich erst langsam dem Ende zu, als Ende Februar die nächste Krise hereingebrochen ist: Denn auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine belastet die Schülerinnen und Schüler. Wenn Schulleiterin Ruth Spölgen auf die Krisen in der Welt schaut, dann sagt sie: „Unsere Schule steckt mittendrin. So wie alle anderen auch.“

Fotos: Andreas Kühlken

An der Schule sind viele Schülerinnen und Schüler, deren Familien vor Jahren aus der Türkei, aus Polen, Russland oder der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. Einige Schüler wüssten, dass ihre Familien nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden sind, wieder andere haben noch Großeltern, die von ihren Kriegserfahrungen erzählen. „Es ist ganz unterschiedlich, wie die Schüler jetzt auf den Krieg reagieren, was sie wissen und wie sie damit umgehen“, sagt Spölgen. Schon während der Hochzeit der Pandemie war es ihr wichtig, den Schülerinnen und Schülern ein Gefühl zu vermitteln: „Du bist nicht allein. Egal, wie schlimm es gerade ist, wir sind für dich da“, sagt Spölgen. Das gilt nun umso mehr.
Die Botschaft ist bei Paul, John, Ensar und Kamil angekommen. Dennoch belastet der Krieg auch sie. „Ich würde gerne mal wieder aufwachen und alles ist normal. Dass eine Woche einfach mal nichts passiert“, sagt Kamil. Er könne sich an dieses Gefühl von völliger Sicherheit und Sorglosigkeit nicht mehr erinnern. „Natürlich machen wir uns Sorgen. Da ist auch Angst, dass der Krieg nach Deutschland kommen könnte“, sagt John. „Ja, man überlegt halt, was passieren könnte“, sagt Kamil.

Der Krieg löst Angst und Entsetzen aus

Diese Sorgen hört Stefanie Griese öfter in ihrem Unterricht. In diesem Schuljahr unterrichtet sie vor allem jüngere Jahrgänge in Mathe und katholischer Religion. Der Krieg habe dort große Angst und Entsetzen ausgelöst. „Ich stand vorne und wollte über Zentimeter und Dezimeter sprechen und merkte: Die Schüler sind mit ihren Gedanken ganz woanders“, sagt sie. Sie erlebte, das Schüler zusammenzuckten, wenn ein Flugzeug über das Schulgebäude flog. Andere fragten sie, ob es in Ibbenbüren Bunker gebe, oder überlegten, wie es wäre, mit der Mutter und Geschwistern flüchten und den Vater zurücklassen zu müssen. „Einige fragten auch, ob in der Ukraine jetzt Kinder kämpfen und ob auch sie hier kämpfen müssten, wenn der Krieg käme“, sagt Griese. Was dann hilft? „Reden, Raum geben für Gespräche und die Kinder mit ihren Fragen und Sorgen ernst nehmen“, sagt sie. Die Schüler hätten sich meist gegenseitig geholfen. „Irgendeiner wusste immer eine Antwort oder konnte beruhigen“, sagt Griese. Als Lehrerin habe sie vor allem moderierend unterstützt. „Wir können den Kindern nicht die Angst nehmen – aber die Panik. Die konnten wir lindern“, sagt sie.

Zufällig stellte die Schule in der Anfangszeit des Krieges in der Ukraine ihr neues Schulmotto vor: Gemeinsam mit Respekt zu deinem Ziel. „Vor allem das ‚gemeinsam‘ war dabei wichtig“, sagt Schulseelsorger Christoph Moormann. Gerade nach der langen Corona-Zeit sei es etwas Besonderes gewesen, zusammen etwas machen zu können. „Etwas in einer Gruppe zu erarbeiten und zu entwickeln, ist der erste Schritt, um Frieden zu schaffen und zu erhalten“, sagt Moormann. Denn natürlich sei der Krieg in der Ukraine gerade in den ersten Wochen ein großes Thema an der Schule gewesen. „Es ging aber auch um Unfrieden im Kleinen: Wo gibt es bei uns Streit? Wie verhalte ich mich, wenn zwei Schüler auf dem Schulhof aneinandergeraten?“ In der Projektwoche bastelten die Schüler Friedenstauben und Schlüsselanhänger, bedruckten Taschen, sprayten Friedensbilder oder zimmerten Insektenhotels. Zum Teil haben sie die Produkte verkauft – über 1800 Euro haben sie so gesammelt. Damit unterstützen sie die Ibbenbürener Tafel, die auch ukrainische Flüchtlinge versorgt, und die örtliche Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“, die Hilfstransporte in die Ukraine organisiert. „Das hat den Kindern tatsächlich sehr geholfen“, sagt Griese. „Sie konnten selbst aktiv werden und etwas machen.“
Dennoch bleibt bei vielen Schülern eine Unsicherheit zurück. „Gerade viele der russischsprachigen Schüler sind innerlich zerrissen“, sagt Griese. Ihre Eltern schauen oft russische Nachrichten, sie selbst informieren sich auch über deutsche Kanäle. Sie vertrauen ihren Eltern, kennen aber auch die Qualität der deutschen Medien. „Sie wissen nicht, was sie glauben sollen“, sagt Griese.

Alice (16) und Dmitriy (17) stecken genau in dieser Zwickmühle. Ihre Eltern stammen aus Kasachstan, Alice ist in Deutschland geboren, Dmitriy ist seit acht Jahren hier. „Im russischen Fernsehen werden Dinge gezeigt, die in den deutschen Nachrichten gar nicht oder erst Tage später vorkommen“, sagt Alice. „Das ist einfach verwirrend. Wer hat denn recht? Was stimmt denn?“, fragt Dmitriy. Beide versuchen, den Krieg in der Ukraine nicht an sich heranzulassen – und doch ist er immer wieder Thema in ihrem Alltag. „Auf einmal wurde ich darauf angesprochen, wo ich herkomme, weil ich Russisch sprechen kann“, sagt Alice. Eltern von ukrainischen Flüchtlingskindern, die die Willkommensklasse an der Schule besuchten, wollten das wissen. „Aber auch völlig Fremde“, sagt sie. „Ich hatte das Gefühl, mich für etwas rechtfertigen zu müssen, was bisher noch nie Thema war.“ Dmitriy wurde in den sozialen Medien beschimpft. Sein Name war dort auf Deutsch und in russischer Schrift zu lesen. „Das hat denen gereicht, um mich blöd anzumachen“, sagt er. Mittlerweile hat er seinen Namen dort geändert, um sich vor Attacken zu schützen.

Mit einigen Ukrainern aus der Willkommensklasse haben die beiden Zehntklässler sich mittlerweile angefreundet. „Wir helfen ihnen in der Schule, übersetzen oder erklären Aufgaben“, sagt Alice. Dabei sind sie aber vorsichtig: „Manche erzählen uns, was sie erlebt haben. Aber wir fragen nicht direkt nach“, sagt sie. „Wir wollen da ja auch nichts aufbrechen“, sagt Dmitriy. „Die Schüler sind da sehr sensibel“, sagt Schulleiterin Spölgen. „Im Sportunterricht bin ich gefragt worden, ob es denn überhaupt okay sei, die ukrainischen Schüler mit einem Ball abzuwerfen“, sagt sie und lächelt. „Das spielt sich jetzt aber alles ein.“

Mit Hoffnung in die Zukunft

Corona hat an den Nerven gezehrt, der Krieg und die wirtschaftlichen Folgen machen vielen Schülerinnen und Schülern Sorgen – die Anne-Frank-Schule kehrt dennoch langsam zur Normalität zurück. „Natürlich bleiben die Krisen ein Thema“, sagt Griese. „Aber wir wollen unsere Schüler ermutigen, positiv zu denken und nach vorne zu schauen.“ Sie sollen ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten entdecken, sich zwar eine eigene Meinung bilden, aber nicht zu sehr über die Krisen grübeln.
So sehen das auch Alice und Dmitriy, die in diesem Sommer ihren Abschluss machen. Er macht eine Ausbildung zum Medizinisch-technischen Radiologieassistenten, sie möchte ihr Fachabitur machen und später Automobilkauffrau werden. Allen Krisen zum Trotz blicken sie hoffnungsvoll in die Zukunft. Alice sagt: „Es lohnt sich nicht, panisch zu sein. Wir können die Dinge besser auf uns zukommen lassen.“

Text: Kerstin Ostendorf

Fotos: Andreas Kühlken

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