
Nachgedacht
Genesis
Gen 28,11-16 (Einheitsübersetzung 2016)
Jakob zog aus Beerscheba weg und ging nach Haran. Er kam an einen bestimmten Ort und übernachtete dort, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Da hatte er einen Traum: Siehe, eine Treppe stand auf der Erde, ihre Spitze reichte bis zum Himmel. Und siehe: Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der HERR stand vor ihm und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich nach Westen und Osten, nach Norden und Süden ausbreiten und durch dich und deine Nachkommen werden alle Sippen der Erde Segen erlangen. Siehe, ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe. Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.
Die Treppe, die Himmel und Erde verbindet
In der Bibel gibt es viele Geschichten über die Verbindung zwischen Gott und Mensch. Mir gefällt eine besonders gut: die von Jakob und der Himmelsleiter. Und ich finde: Auch wenn es sich hier um einen Traum handelt, ist es doch einer, den wir heute noch träumen könnten. Und so fängt er an:
Jakob kam an einen bestimmten Ort, wo er übernachtete, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder (Gen 28,11f.)
Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf: eine Leiter, die Himmel und Erde miteinander verbindet. Die Aktion geht von Gott aus, er sucht von sich aus eine Verbindung mit Jakob. Zugleich legt er diese Verbindung nicht als Einbahnstraße an: die Engel bewegen sich in beide Richtungen. Das heißt: Wir sind eingeladen zu antworten; dazu später mehr.
Wie so oft in der Bibel vermittelt sich dem Menschen Himmlisches durch einen Traum. Was sich im Traum zeigt, darüber kann der Mensch nicht einfach verfügen, das entzieht sich der Kontrolle rationalen Denkens. Ich verstehe hier das Träumen als ein Symbol für die Sehnsucht des Menschen – für unsere Sehnsucht nach Liebe und Glück, nach Sinn und Geborgenheit, nach Lebendigkeit und Ewigkeit. Gott lädt zum Träumen ein – und das nicht nur im Schlaf. Wir sind aufgefordert, unsere Sehnsucht aufzuspüren und ihr nachzuspüren, ihr zu folgen, sie als Ruf Gottes an uns zu vernehmen. Gott sucht eine Verbindung zu uns, und am deutlichsten vernehme ich seine Stimme in unserer Sehnsucht, die vielleicht immer da ist, aber manchmal aus der Tiefe nach oben kommt. Wonach sehnst Du Dich, wovon träumst Du, woran hängt Dein Herz? „Alles beginnt mit der Sehnsucht“, sagt die jüdische Dichterin Nelly Sachs – auch und vor allem eine lebendige Verbundenheit mit Gott.
Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. (Gen 28, 13f.)
Was ist das für ein Gott, der sich mit uns verbinden will, der dazu einlädt, sich mit ihm zu verbinden? Es ist nicht ein selbstgemachter Götze, unser Privatgott. Es ist der Gott, der schon Menschen vor uns Zukunft verheißen hat, und es ist der Gott, der uns und unseren Nachfahren Zukunft verheißt. Diesen Gott haben schon andere erfahren, und wieder andere werden davon profitieren, dass wir ihn erfahren. Unsere Verbundenheit mit Gott ist nicht nur für uns gedacht, sondern wird durch uns ausstrahlen, wenn wir sie aufnehmen und annehmen.
Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe. (Gen 28,15)
Auch das ist wichtig: Gott verheißt nicht einfach für irgendwann eine Zukunft, sondern er sichert uns hier und jetzt seinen Beistand, seine Begleitung zu. Seine Zusage gibt Zuversicht für die Zukunft. Gott hält die Verbindung – und fragt: Willst Du das auch? Dann folge Deiner Sehnsucht, Deiner Sehnsucht nach einem Leben und Lieben, das zu Dir passt; folge Deiner Sehnsucht nach dem Land der Zukunft, in dem Du leben willst!
Das also ist die eine Richtung der Himmelsleiter: Gott kommt uns von oben entgegen. Aber auch wir sind gefragt, uns zu bewegen und von uns aus die Verbindung zu halten. Wie kann das gehen? Ich formuliere es mal als 2G-Regel: mit Gebet und Güte.
Verbindung halten durch Gebet
Beten ist Beziehungspflege, Kontakt halten mit Gott. Das kann mal lobend und dankend geschehen, mal bittend und flehend. Ja, und das kann mitunter klagend und hadernd geschehen: Der Beistandszusage Gottes zum Trotz gehört zur Realität des Lebens auch das Leiden; und für zu viele ist es zu viel Leid. Während die einen sich im Leiden mit Gott, mit Christus verbunden fühlen und im Glauben Trost und Stärkung erfahren, empfinden andere ihre Lebenssituation als Gottesferne; ihr Leiden wird dann durch den Glauben nicht gelindert, sondern sogar noch verstärkt.
Mit Gott verbunden sein, kann auch heißen empört zu sein, enttäuscht von ihm und wütend auf ihn zu sein. „Gott, mit Dir bin ich fertig!“ oder auch „Gott, mit Dir bin ich noch nicht fertig!“, es kann beides geben, ebenso wie ein trotziges Vertrauen darauf, dass Gott sich durch jedes Dunkel hindurch als verlässlich erweisen wird. „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“, schreit Jesus am Kreuz (Mt 27, 46), aber auch: „Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23, 46)
Wie Menschen im Leiden gegen jeden Anschein an Gott festhalten können, machen mir jüdische Zeugnisse eindrücklich bewusst, wie diese bekannte Inschrift aus dem Warschauer Ghetto: „Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre. Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.“
Verbindung halten durch Güte
Alles hat seine Zeit, heißt es im Buch Kohelet. Es gibt eine Zeit des Betens, der Kontemplation; und es gibt eine Zeit des Handelns, der Aktion. Wir bleiben mit Gott in Verbindung, wenn wir in seiner Liebe bleiben; und in seiner Liebe bleiben, heißt, diese Liebe leben, ausleben. Dazu hat Jesus uns das doppelte Hauptgebot der Liebe gegeben, das eigentlich ein Dreifachgebot ist: Liebe Gott, liebe den Nächsten, liebe Dich selbst! Wir glauben nicht nur an einen Gott im Himmel, im Jenseits. Im Mitmenschen begegnet uns Christus, im Diesseits. Und im Herzen, dem Sitz unserer Sehnsucht, „seufzt sein Geist“ (vgl. Röm 8, 26), in unserem Innersten.
Mit Gott die je eigene Verbindung zu halten, Gebet und Güte zu pflegen: Das ist eine höchst persönliche Herausforderung. Dennoch müssen wir sie nicht allein bestehen. Zumindest für mich gilt: Ich brauche andere, wir brauchen einander, um miteinander und füreinander mit Gott verbunden zu bleiben. Darum gibt es in der Nachfolge Jesu Kirche als Gemeinschaft von Glaubenden, von Suchenden, von Sehnsüchtigen. Diese Gemeinschaft, sei sie groß oder klein, sei es eine Gemeinde, Gruppe, Familie, Freundeskreis kann helfen, die Verbundenheit mit Gott zu erfahren, zu feiern und zu stärken. Auch wenn zugleich zur Wahrheit der menschlichen Seite von Kirche gehört, dass unheilvolle Erfahrungen in, mit und durch Kirche das Licht des Glaubens in den Schatten stellen und manchmal sogar die Verbindung zu Gott erschweren.
Jakob träumt von der Himmelsleiter, von einer guten Verbindung zu Gott. Zu träumen ist das eine, zu erwachen ist ein anderes: Ich wünsche Ihnen gute Träume der Sehnsucht, und ich wünsche Ihnen immer wieder die Erfahrung des Erwachens und des Erkennens unserer Verbindung mit Gott. Sie stellt sich häufig erst im Rückblick ein, wie schon bei Jakob:
Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. (Gen 28,16)
Text: Martin Splett
Martin Splett ist Referent für Hospizarbeit und Trauerpastoral im Bistum Osnabrück und arbeitet als Klinikseelsorger und Konfliktberater.
Illustration: Patrick Schoden