Interview
Mit ordentlich Rückenwind unterwegs
In wenigen Jahren soll in Niedersachsen ein Christlicher Religionsunterricht eingeführt werden. Die evangelische und die katholische Kirche verantworten dann gemeinsam die Lehrpläne. Was bedeutet das für den Religionsunterricht? Und vor welche Herausforderungen stehen die Religionslehrerinnen und Religionslehrer?
Mitte Oktober gab es ein weiteres Symposium, bei dem die evangelische und katholische Kirche über die Einführung eines gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterrichts in Niedersachsen beraten haben. Wie ist der aktuelle Stand?
Henrik Simojoki: Bei dem Treffen haben sich die Kirchen, die Landespolitik und Theolog*innen fast durchweg positiv zum Christlichen Religionsunterricht geäußert. Das hat dem Ganzen einen ordentlichen Rückenwind gegeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass der CRU in Niedersachsen eingeführt wird, ist deutlich gestiegen. Eine endgültige Entscheidung der beiden Kirchen soll Mitte nächsten Jahres fallen. Dann können auch die Gespräche mit der Landespolitik folgen.
Wie ist überhaupt die Idee entstanden, in Niedersachsen einen gemeinsamen Religionsunterricht einzuführen?
Simojoki: Niedersachsen ist ein Pionier in Sachen interkonfessioneller Zusammenarbeit. Schon seit Ende der 1990er Jahre gibt es hier die Möglichkeit des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts: Die Lehrkraft einer Konfession erteilt Unterricht in einer konfessionell-gemischten Klasse.
Konstantin Lindner: In Niedersachsen arbeiten die drei Bistümer Osnabrück, Hildesheim und Münster seit Jahrzehnten intensiv mit den drei evangelischen Landeskirchen zusammen. Sie haben viele positive Erfahrungen mit dem konfessionell-kooperativen Religionsunterricht gemacht. Jetzt sind sie auf Basis dieser ökumenischen Zusammenarbeit soweit, um den Schritt zu einem gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterricht konsequent weiterzugehen.
Wieso wird ein Christlicher Religionsunterricht angestrebt, wenn der konfessionell-kooperative Unterricht so gut funktioniert?
Lindner: An der Art, wie der Unterricht erteilt werden wird, wird es keine großen Unterschiede zu jetzt geben. Aber die Grundlage ist eine andere. Es wird nur einen Religionsunterricht geben, der nicht mehr unter den Vorzeichen katholisch und evangelisch getrennt ist. Dabei steht die religiöse Bildung der Heranwachsenden im Vordergrund; auch nicht getaufte Schüler*innen sind eingeladen, daran teilzunehmen.


Im Beratungsprozess
Der evangelische Theologe Henrik Simojoki und der katholische Theologe Konstantin Lindner begleiten wissenschaftlich den Beratungsprozess zur Entwicklung des gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterrichts in Niedersachsen. Simojoki lehrt Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Lindner hat den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg inne. Sie sagen: „Wir sind nicht die aktiven Player im Prozess. Aber durch unsere wissenschaftliche und praktische Erfahrung geben wir Einschätzungen und einen Blick von außen auf die Diskussion.“
Was sind noch die Vorteile des Christlichen Religionsunterrichts?
Simojoki: Natürlich geht es auch um eine langfristige Organisierbarkeit des Religionsunterrichts. Die Gesamtzahl evangelischer und katholischer Schüler*innen nimmt in ganz Deutschland ab. Viele Lehrer*innen unterrichten das Fach leidenschaftlich gerne. Es geht darum, dass sie eine Perspektive haben, die die nächsten 20 oder 30 Jahre trägt.
Was bedeutet der CRU für die Lehrkräfte?
Simojoki: Beim konfessionell-kooperativen Religionsunterricht sind die Lehrkräfte schon jetzt herausgefordert, die Perspektive der Schüler*innen in ihren Unterricht zu integrieren, die der konfessionellen Minderheit angehören. Sie haben sich da über Jahre Kompetenzen angeeignet. Sie haben Fortbildungen besucht und es gibt eine gute Kultur der Zusammenarbeit, weil man sich oft mit Lehrkräften der anderen Konfession abstimmen muss.
Das heißt, für die Lehrer*innen wird sich nicht so viel ändern?
Simojoki: Ja und nein. Es ändert sich schon etwas. Das Spannende ist ja, dass es dann gemeinsame Lehrpläne, gemeinsame Lehrbücher geben muss; auch gilt es, die Ausbildung stärker zu profilieren.
Lindner: Es wird spannend zu schauen, wie es gelingt, etwa die universitäre Ausbildung zu wandeln. Es wird weiterhin ein konfessionell gebundenes Studium geben, aber es muss in den Instituten, Fakultäten und in den Lehrveranstaltungen stärker die Sicht der jeweils anderen Konfession integriert werden. In meinem Studium bspw. haben mir katholische Dozent*innen beigebracht, was es heißt, evangelisch zu sein. Das sollte nun personal repräsentiert laufen. Also konfessionelle Spezifika sollten – wo möglich – durch eine*n entsprechnde*n Dozierenden gelehrt werden; interkonfessionelle Lehrveranstaltungen, die von Dozierenden unterschiedlicher Konfessionen gemeinsam geleitet werden, sollten zum Standardangebot gehören.
Wie reagieren die Lehrerinnen und Lehrer auf die Pläne zum CRU?
Linder: Grundsätzlich sind sie dem Christlichen Religionsunterricht gegenüber sehr offen eingestellt. Aber natürlich gibt es auch Ängste. Gerade Lehrkräfte an weiterführenden Schulen, die einen hohen fachlichen Anteil im Unterricht haben, fragen sich: Bin ich gut genug gebildet für die Repräsentation der anderen Konfession(en) in einem gemeinsam verantworteten christlichen Religionsunterricht?
Simojoki: Das sind so Ja-aber-Strukturen: ‚Grundsätzlich befürworten wir das, aber …‘ Interessanterweise gibt es aber Bedenken von zwei Seiten: Die einen fragen, ob wir wirklich schon so weit sind für einen gemeinsamen Reli-Unterricht. Andere Stimmen sagen, wir müssten viel weiter gehen. Vielleicht ist es kein schlechtes Zeichen, wenn man in einem Reformprozess Stimmen von beiden Seiten hat.
Was ist nötig, um den Lehrerinnen und Lehrern Ängste zu nehmen?
Lindner: Ich glaube, einen großen Teil der Ängste können mit guten Materialien genommen werden. Wenn die Religionslehrer*innen diese haben, eine entsprechende Didaktik ausgefeilt ist und es Schulbücher gibt, die das Land und die Kirchen abgesegnet haben, dann fühlen sie sich schon sicherer.
Wie wird sich der CRU auf die Themen des Religionsunterrichts auswirken?
Simojoki: In diesem Religionsunterricht wird das Gemeinsame im Vordergrund stehen. Wenn es um die konkreten Inhalte geht, werden wir aber sehr stark darauf achten müssen, wie Inhalte repräsentiert werden.
Wie meinen Sie das?
Simojoki: Die Reformation wird von katholischer Seite zum Beispiel anders dargestellt als von evangelischer Seite. Umgekehrt wird eine evangelische Lehrkraft sich anders äußern, wenn es um das Papsttum geht, als eine katholische. Es muss gesichert sein, dass die Lehrkraft nichts vertreten muss, was sie persönlich nicht überzeugt. Und es muss gewährleistet sein, dass die Schüler*innen der jeweiligen Konfession auch die Innenperspektive hören. Da gibt es noch didaktische Hausaufgaben.
Wie kann man das lösen?
Simojoki: Im Bereich des interreligiösen Lernens gibt es bereits Optionen. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, Erklärvideos einzuspielen.
Lindner: Bei bestimmten Themen wird natürlich ein konfessionelles Merkmal bleiben. Dafür braucht es eine gemeinsame Kommission, die klärt, wie man damit umgehen kann. Beim Blick auf die aktuellen Curricula zeigt sich aber: Es gibt viele Themen, zum Beispiel zu ethischen Fragen, wo nur selten Differenzen existieren. Und ich würde mir wünschen, dass sich auch Themen verändern.
Inwiefern?
Lindner: Viele Schüler*innen sind heute nicht mehr religiös sozialisiert. Es gilt zu überlegen, in welchen Themen heute noch Religion drinsteckt. Wir haben eine Gesellschaft, deren Demokratie herausgefordert wird. Da kann Religion einen guten Beitrag leisten. Oder der Nachhaltigkeitsdiskurs – das ist ein ureigenes Religionsthema. Aber die Jugendlichen, die sich dafür einsetzen, haben sich zunächst nicht von den Kirchen repräsentiert gefühlt. Oder die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit: Das können wir in einem Christlichen Religionsunterricht noch besser diskutieren.
Simojoki: Genau das ist es. Beim Wechsel zum Christlichen Religionsunterricht geht es darum, gemeinsam über das Fach und die gesellschaftliche Rolle religiöser Bildung nachzudenken. Ich glaube, als Religionslehrer*in in Niedersachsen kann man mit einem breiten Kreuz durchs Leben gehen. Es ist bemerkenswert, was hier in den vergangenen Jahren auf dem ökumenisch-didaktischen Weg geleistet worden ist. Wenn ein CRU in Deutschland eingeführt wird, dann kann es eigentlich nur in Niedersachsen sein.
Der Christliche Religionsunterricht
Im Mai 2021 wurde ein Positionspapier der evangelischen und katholischen Kirche zum Christlichen Religionsunterricht vorgestellt. Der Plan: Künftig soll es in Niedersachsen einen gemeinsamen Religionsunterricht geben, der von beiden Kirchen verantwortet ist. Die Trennung in katholischen und evangelischen Unterricht soll voraussichtlich ab dem Schuljahr 2025/26 schrittweise entfallen.
Interview: Kerstin Ostendorf
Foto-Hinweis: Hendrik Simojoki: privat; Konstantin Lindner: Uni Bamberg/F. Brustkern.