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„Wir können das Beste daraus machen“

Wo „Jude“ oder „Pole“ als Schimpfwörter auf dem Schulhof fallen, da engagiert sich der Berliner Verein „meet2respect“. Die Idee: Ein Imam und ein Rabbi diskutieren mit den Schülern über gegenseitigen Respekt und Toleranz. Sie wollen Religionen und Kulturen verbinden – und Vorurteile auflösen. Bei ihren Besuchen entdecken sie mit den Jugendlichen viele Gemeinsamkeiten.

Gebannt sitzen die Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln im Stuhlkreis und blicken neugierig auf die beiden Männer, die vorne an der Tafel Platz nehmen. Es dauert eine Weile, bis Ruhe einkehrt – sie wissen nur, es geht heute um Religion, um Judentum und Islam. „Wer von uns ist wohl der Rabbi, wer ist der Iman?“, fragt einer der beiden Besucher in die Runde. „Sie sind der Rabbi, weil Sie Kleidung tragen, die ich nicht kenne“, sagt ein Schüler.

Beide Männer tragen Zivilkleidung, ihre Religion ist äußerlich nicht erkennbar. Wie kann da die Kleidung Aufschluss geben, wer Jude oder Muslim ist? Genau darum geht es dem Verein „meet2respect“: Typische Vorurteile ansprechen, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit unter Jugendlichen entgegenwirken. „Meet2respect“, entstanden 2013 als Projekt des Vereins „Leadership Berlin – Netzwerk Verantwortung“, will jungen Menschen eine Haltung des Respekts, der gegenseitigen Toleranz und Achtung vermitteln. Die gemeinsamen Schulbesuche eines Rabbis und eines Imams sind fester Bestandteil dieser Arbeit.

Fotos: Paula Vidal

Der Handlungsbedarf ist groß, bestätigt Klassenlehrerin Afife Sürum. Nationalitätenkonflikte, zum Beispiel zwischen Türken und Kurden, spielten hier in Neukölln, einem sozialen Brennpunkt mit hohem Migrantenanteil, eine große Rolle, erzählt sie. Auch in puncto Religion würden immer wieder Sprüche auf dem Schulhof fallen. „Du Jude“, höre man immer wieder – obwohl es an der Schule fast keine jüdischen Mitschüler gebe. Dagegen würden die Lehrerinnen und Lehrer aktiv einschreiten, versichert Sürüm. „Wir versuchen, viel Aufklärungsarbeit zu machen“, sagt die Lehrerin.

Erste Lektion: Kein vorschnelles Urteil fällen

Zum Beispiel an diesem Vormittag, als in ihrer Klasse zum ersten Mal zwei Vertreter von „meet2respect“ zu Besuch sind. Zunächst lüften sie das Geheimnis, wer welcher Religion angehört. Beide setzen ihre Kopfbedeckung auf. Der vermeintliche Muslim trägt plötzlich eine schwarze Kippa. Der andere, den die meisten Jugendlichen als Juden identifiziert hatten, seine weiße Kopfbedeckung, die ihn als Imam kenntlich macht. Die meisten Schüler*innen lagen falsch mit ihrer Vermutung – und haben gleich ihre erste Lektion gelernt: Man darf sich nicht allein von Äußerlichkeiten zu Urteilen hinreißen lassen. „Reingefallen!“, sagt Rabbiner Igor Itkin.

Er ist an diesem Vormittag am meisten gefragt, denn die Schülerinnen und Schüler sind in der Mehrheit Muslime. Die meisten von ihnen haben mit Juden noch nichts zu tun gehabt. „Ich habe zum ersten Mal einen Juden in echt gesehen“, sagt der 12-jährige Jassem. So geht es vielen hier, bestätigt auch Klassenlehrerin Sürüm. „In diesem Jahrgang haben wir meines Wissens gar keine jüdischen Jugendlichen.“ Und offenbar sei in den Grundschulen wenig bis gar keine Aufklärungsarbeit in puncto Judentum geleistet worden.

Das versuchen die beiden Religionsvertreter an diesem Vormittag ein Stück weit nachzuholen. Die Jugendlichen sind neugierig, fragen immer wieder nach, der Ton bleibt dabei immer höflich und respektvoll. Was darf ein Jude am Sabbat nicht machen? Zum Beispiel elektrischen Strom verwenden, sagt Rabbi Itkin. Er zeigt den Schüler*innen eine Zeitschaltuhr, die er vor dem Ruhetag in die Steckdose einsetzt. So hat er elektrisches Licht, kann aber das Sabbatgebot einhalten. Auch dürfe er am Sabbat nichts tragen – nicht mal einen Schlüssel, erklärt er den staunenden Jugendlichen. Was kann man tun? Zu Hause bleiben, die Türen offenlassen? Der Rabbi hat einen Trick: Er befestigt die Schlüssel an einem speziellen Gürtel mit mehreren Ösen. So hat er den Schlüssel bei sich, ohne ihn tragen zu müssen.

Imam Ender Cetin hat heute den weitaus einfacheren Part. „Wisst ihr, was ein Imam ist?“, fragt er die Jugendlichen. Die meisten rufen „Ja“. Einer der Schüler hat sogar schon in der Moschee einen Dienst übernommen. Als sich die Jugendlichen vorstellen, wird deutlich, dass die allermeisten von ihnen einen Migrationshintergrund haben: Türken, Syrer, Polen, Kroaten, auch ein Palästinenser ist dabei. Neukölln ist ein multikultureller Stadtteil, und diese Vielfalt zeigt sich auch hier in der Schulklasse.

Unwissenheit prägt Vorurteile

„Wisst Ihr, was Vorurteile sind?“, fragt Imam Cetin die Schüler*innen. Da können sie einige Beispiele nennen: „Muslime sind alle Terroristen und Bombenleger“, „Deutsche sind Almans oder Nazis“, „Alle Juden unterdrücken die Palästinenser“. „Wer hat denn schon mal einen Juden getroffen?“, fragt Rabbi Itkin. Fast alle schütteln den Kopf. Es ist die Unwissenheit, die solche Vorurteile prägt, bestätigt auch Imam Cetin. Man rede übereinander, nicht miteinander – und genau das soll ihre Initiative ändern.

Alle Jugendlichen erhalten eine Karte mit einer typischen Aussage, die für eine der beiden Religionen steht – oder auf beide zutrifft. „Die Heilige Schrift meiner Religion ist die Tora“, „Ich war schon in Mekka“, „In meiner Religion ist Abraham/Ibrahim ein wichtiger Prophet“, steht beispielsweise darauf. Welche Aussage gehört zum Judentum, zum Islam oder passt auf beide Religionen? Die Schülerinnen und Schüler legen die Karten auf den Boden ins entsprechende Feld, dann diskutieren sie mit dem Imam und dem Rabbi darüber: Welche Karte liegt richtig, welche ist falsch zugeordnet? Bei den Fastengeboten, im Islam der Ramadan, im Judentum zweimal 25 Stunden im Jahr und an besonderen Feiertagen, kommen sie zum Beispiel durcheinander.

Doch sie entdecken auch Gemeinsamkeiten: So essen auch Juden kein Schweinefleisch, erklärt Rabbi Itkin. Speisen, die für Juden koscher sind, können für Muslime auch halal sein, ergänzt Imam Cetin. Auch Jesus – zumindest als Prophet – und der Stammvater Abraham spielen in beiden Religionen eine Rolle.

Die Schülerinnen und Schüler sind am Ende der gut anderthalb Stunden zufrieden mit der Diskussion. „Das war sehr gut, wir haben von beiden Seiten viel kennengelernt“, sagt die 12-jährige Amyra. Auch ihre Mitschülerin Zoe ergänzt: Besonders über das Judentum habe sie heute viel gelernt. Religiöse Streitigkeiten seien an ihrer Schule gar nicht so verbreitet – eher gehe es um Nationalitätenkonflikte. „Wenn einer etwas klaut, dann ist er ‚der Pole’“, erzählt Jassem. Auch Amyra wird manchmal wegen ihrer kurdischen Herkunft gemobbt: „Sie sagen dann, Kurdistan sei doch gar kein Land.“

Rabbi Itkin und Imam Cetin hoffen, dass der Vormittag bei den Jugendlichen einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Schließlich können anderthalb Stunden keine dauerhafte, nachhaltige Aufklärungsarbeit ersetzen. „Wir wissen nicht, wie die Jugendlichen in drei, vier Jahren denken“, sagt Itkin. Aber die Lehrer könnten sie anrufen, wenn Probleme auftauchen. Gerade bei sensiblen Themen wie dem Nahost-Konflikt hätten sie in anderen Fällen auch schon kontroverse Diskussionen erlebt. „Ich sage dann immer, wir können den Konflikt nicht lösen“, meint Imam Cetin. „Aber wir können das Beste daraus machen.“

Text: Oliver Gierens
Fotos: Paula Vidal

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