Fragestunde
„Wir steuern nicht die Wahrheit, aber wir wählen aus“
Seit mehr als 20 Jahren moderiert Marietta Slomka das heute journal im ZDF. Im Interview spricht sie über die schwierige Suche nach Wahrheit, über Propaganda, die Zweifel säen will und über ihre Rolle als Journalistin.
Inwiefern sind Sie als Journalistin auf der Suche nach Wahrheit?
Ich denke, das ist die Kernaufgabe in unserem Job. Wir können nicht behaupten, immer die volle und unbestechliche Wahrheit zu wissen. Aber guter Journalismus ist die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit. Das will ich leisten – so gewissenhaft wie ich kann.
Wie schwierig ist diese Suche nach Wahrheit?
Oft sehr schwierig. Durch die digitalen Medien stecken wir in einer Flut von Informationen, die wir erst einmal verifizieren müssen. Vieles klingt plausibel, ist es aber auf den zweiten Blick gar nicht. Bilder und Videos können gefälscht sein oder es werden Dinge behauptet, die auf dem Bild zu sehen sind, aber nicht der Wahrheit entsprechen.
Wie überprüfen Sie das?
Eine Methode ist die sogenannte Rückwärtssuche. Da stellen wir dann zum Beispiel fest, dass das Bild gar nicht neu ist, sondern schon vor viel längerer Zeit in einem ganz anderen Kontext entstanden ist.
Wie wichtig ist dieser Teil Ihrer Arbeit mittlerweile geworden?
Das hat auf jeden Fall zugenommen, gerade auch in den vergangenen Monaten, wo wir über den Angriffskrieg auf die Ukraine berichten. Es gibt ja diesen berühmten Spruch: Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst. Oder wie Churchill einmal sagte: Sie wird von so vielen Lügen umstellt, dass man sie nicht mehr erkennt. Wir sprechen auch vom Kriegsnebel, in dem wir stochern. Da kommt es darauf an, Informationen und Bilder zu überprüfen, und, wenn man das nicht ausreichend leisten kann, zu sagen, wer diese Angaben gemacht hat.
Sie arbeiten da sehr transparent.
Vielleicht fällt es durch die Intensität auf, dass wir in den Nachrichten häufiger sagen, woher diese Info stammt oder eben, dass es sich nicht unabhängig überprüfen lässt. Wir haben gerade auch in diesem Krieg mit Propaganda zu tun, die von der russischen Seite massiv betrieben wird. Die Lüge ist Teil der Kriegsstrategie. Sie wird gezielt in westliche Länder hineingetragen. Diese Strategie beobachten wir schon länger und wir mussten erst lernen, damit umzugehen.
Inwiefern?
Propaganda wirkt meist nicht dadurch, dass sie den Menschen sagt, was angeblich die Wahrheit sei. Sondern indem sie Zweifel streut. Zweifel an dem, was tatsächlich wahr ist. Ich denke da zum Beispiel an die Attentate auf russische Regimekritiker oder an das über der Ukraine abgeschossene Flugzeug MH17. Mit Propaganda soll das Offensichtliche in Frage gestellt werden: Vielleicht war es ja mit dem Flugzeug doch anders? Vielleicht waren es keine Russen, die es abgeschossen haben? Oder: vielleicht hat ja doch ein anderer das Attentat auf Nawalny verübt? Gab es überhaupt ein Attentat? Das gezielte Einpflanzen von Zweifeln soll Verwirrung stiften.
„Guter Journalismus ist die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit. Das will ich leisten – so gewissenhaft wie ich kann.“
Fällt es Ihnen gerade bei Krisen und Katastrophen manchmal schwer, die Wahrheit zu zeigen?
Ja. Gerade bei Kriegen gibt es ein Ausmaß an Grausamkeit, dass wir uns überlegen müssen, inwieweit wir das zeigen. Wir dürfen die Würde des Menschen, insbesondere von denen, die in der Situation zum Opfer werden, nicht noch mehr dadurch verletzten, dass wir zeigen, wie sie gequält, gefoltert oder vor laufenden Kameras ermordet werden. Terroristen wollen das ja: Entsetzliche Dinge zeigen, die ganze Gesellschaften in Angst und Schrecken versetzen. Dieses Spiel würden wir dann mitspielen.

Welche Regeln gibt es noch?
Wir zeigen einen Menschen nicht in dem Moment, in dem er stirbt, sondern – das klingt jetzt grausam – erst die Leiche. Und auch so, dass das Gesicht nicht erkennbar ist. Wir müssen bedenken, dass etwa bei einem Terroranschlag oder einer Naturkatastrophe Angehörige auf der anderen Seite des Bildschirms sitzen könnten, die dann erkennen: Oh, mein Gott – das ist ja meine Nichte, die da auf dem Breitscheidplatz liegt. Oder ein anderes Beispiel: Vor einigen Monaten gab es ein Video, das zeigt, wie die russische Wagner-Gruppe einen vermeintlichen Deserteur mit einem Hammer erschlägt. Diese Szene würden wir nie ganz ausstrahlen, in diesem Fall haben wir aber gar nicht darüber berichtet.
Warum nicht?
An diesem Abend gab es eine Fußballübertragung und das heute journal lief in der Halbzeitpause. Da sitzen noch viele Kinder vor dem Fernseher, die dann mal länger aufbleiben dürfen. Da planen wir die Sendung noch sorgfältiger und eine Halbzeit-Sendung ist sehr kurz. Das Ereignis war nicht so relevant, dass man es unbedingt berichten musste, eher ein Nebenkriegsschauplatz. Die ganze Wahrheit ist: Da wurde jemand mit einem Hammer erschlagen. Aber aus unterschiedlichen Überlegungen zeigen wir das nicht.
Steuern Sie nicht dadurch die Wahrheit?
Wir steuern nicht die Wahrheit, aber wir wählen aus. Das ist immer eine Abwägung, über die wir in der Redaktion oft intensiv diskutieren. Auch über die Bildauswahl. In manch anderen Kulturkreisen, gerade in Krisenregionen, halten Kameraleute länger drauf und zeigen härtere Szenen als wir im deutschen Fernsehen. Ich habe auch aus dem Ukrainekrieg Videos und Kampfszenen gesehen, die würden wir einem breiten TV-Publikum so nicht präsentieren. Als Journalisten haben wir die Aufgabe zu filtern. Wenn wir permanent alles zeigen würden, Folterungen, Ermordungen, aufgedunsene Wasserleichen nach Überschwemmungen, dann wäre unsere Sendung psychisch nicht mehr verkraftbar. Abgesehen vom Aspekt der Menschenwürde.
Ständig die ganze Wahrheit zu sehen, kann schmerzhaft sein. Wie gehen Sie persönlich mit Nachrichten aus Kriegs- und Katastrophengebieten um?
Es stellt sich natürlich eine gewisse Professionalität ein. In Katastrophenfällen ist bei uns in der Redaktion wirklich viel los. Das ist ein bisschen wie in einer Notaufnahme: Da bricht auch niemand in Tränen aus, wenn jemand in den Schockraum gebracht wird. Aber natürlich lassen auch mich viele Bilder und Szenen nicht mehr los.
An was denken Sie da?
In diesem Krieg in der Ukraine haben wir sehr engen Kontakt zu den Betroffenen. Vor allem in den ersten Kriegswochen waren oft Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihre Nächte in Luftschutzkellern verbrachten, per Skype oder Zoom direkt zu uns ins Studio geschaltet. Da verabschiedete ich mich von Menschen, von denen ich nicht wusste, ob sie die nächsten Stunden überleben oder einen schrecklichen Tod sterben werden. Das ist dann sehr nah und sehr bedrückend.
Wie können Sie da loslassen?
Manchmal gehe ich an die frische Luft und lasse mir den Wind um die Nase wehen. Oder ich lenke mich ab, koche etwas Schönes oder schaue etwas Tröstliches, eine freundliche Komödie oder so etwas.
Welche Werte bestimmen Ihre Arbeit als Journalistin?
Ich habe den Wunsch zu erklären und zu beleuchten, unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen zu Wort kommen zu lassen. Das heißt aber nicht, dass ich zum Beispiel plötzlich absurde Dinge als gleichwertig neben eine wissenschaftlich belegte Wahrheit stelle. Das ist ja auch eine Methode von Propaganda und Populismus, so etwas einzufordern, eine sogenannte „False Balance“. Dann könnten wir uns demnächst auch noch mit Leuten befassen, die glauben, die Erde sei eine Scheibe. Oder bei Adam und Eva anfangen und die ganze Evolutionsbiologie infrage stellen. Das führt zu nichts, zu keinem weiteren Erkenntnisfortschritt und auch nicht zu fruchtbaren Diskussionen.
Interview: Kerstin Ostendorf
Preisgekrönte Journalistin
Seit 2001 moderiert Marietta Slomka das „heute journal“ im ZDF. Die gebürtige Kölnerin studierte Volkswirtschaftslehre und Politik in Köln und in Großbritannien. Nach einem Volontariat bei der Deutschen Welle kam sie 1998 als Parlamentskorrespondentin zum ZDF. Für ihre Arbeit wurde sie 2017 mit der Goldenen Kamera und 2018 und 2020 mit dem Deutschen Fernsehpreis geehrt.