Nachgedacht

Lukas 2,25-32.36-38
In Jerusalem lebte ein Mann namens Simeon. Dieser Mann war gerecht und fromm und wartete auf den Trost Israels und der Heilige Geist ruhte auf ihm. Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Christus des Herrn gesehen habe. Er wurde vom Geist in den Tempel geführt; und als die Eltern das Kind Jesus hereinbrachten, um mit ihm zu tun, was nach dem Gesetz üblich war, nahm Simeon das Kind in seine Arme und pries Gott mit den Worten:

Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast. Ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel.

Damals lebte auch Hanna, eine Prophetin, eine Tochter Penuëls, aus dem Stamm Ascher. Sie war schon hochbetagt. Als junges Mädchen hatte sie geheiratet und sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt; nun war sie eine Witwe von vierundachtzig Jahren. Sie hielt sich ständig im Tempel auf und diente Gott Tag und Nacht mit Fasten und Beten. Zu derselben Stunde trat sie hinzu, pries Gott und sprach über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.

Dann geht mir ein Licht auf – Von der lebenslangen Sehnsucht nach Gott

Hanna und Simeon. Zwei Personen, die wir eigentlich aus der Weihnachtszeit kennen. Aber sie sind interessante Menschen auch für den Rest des Jahres. Hanna und Simeon, die beiden, die im Tempel ausharren, sind Suchende, sie sind Gottsucherin und Gottsucher. Ein Typos, der heute eher selten geworden ist. Obwohl: Vielleicht ist eher das Wort „Gottsucher“ unmodern geworden, nicht die Sache. Denn Sehnsuchtsmenschen sind doch viele von uns.
Deshalb stehen beide, die hochbetagte Prophetin Hanna und der fromme und gerechte Simeon stellvertretend für uns. Sind Menschen doch immer Erwartende, das ganze Leben lang auf der Suche. Nicht nur nach dem richtigen Partner, der besten Freundin, dem erfüllenden Beruf, der passenden Wohnung. Nein, da ist auch diese größere Sehnsucht, die uns ausrichtet auf etwas, das mehr als alles ist und ins Unendliche verweist.
Aber wie findet ich das? Wie suche und finde ich Gott?

Wahrnehmen, dass ich suche

Die Sehnsucht von Hanna und Simeon lebt auch in uns. Sie gehört zu einem geistlichen Leben.
Zunächst kommt es darauf an, diese Sehnsucht überhaupt zu spüren. Denn wer nichts mehr spürt, wird auch auf keine Spur kommen. Für mich ist die Sehnsucht der Ruf Gottes, ihn zu suchen, ihm auf die Spur zu kommen. Den Ruf zu hören, ist im Alltag gar nicht so einfach. Hanna und Simeon nehmen sich gewissermaßen eine Auszeit im Tempel, um ihrer Sehnsucht Raum zu geben durch Beten und Fasten.

Was spürt derjenige, der ins Spüren kommt? Es ist nicht immer angenehm, innezuhalten und in sich hineinzuspüren. Es gehört Mut dazu. In Auszeiten können auch Gefühle wie Trauer, Schmerz, Angst oder Schuld hochkommen. Simeon und Hanna waren davon sicher auch nicht ausgenommen.
Diese Gefühle haben eine hintergründige Botschaft: Sie weisen darauf hin, dass wir Gott und die Vollendung seines Reiches vermissen oder mit Paulus gesprochen, „dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und insgesamt in Wehen liegt bis jetzt“ (Röm 8,22). Der Theologe Fulbert Steffensky hat einmal gesagt: „Spiritualität ist die Fähigkeit, das Reich Gottes zu vermissen“. Das Reich Gottes wächst heran, die Vollendung jedoch steht noch aus. Diese Spannung gilt es auszuhalten und zu warten wie Hanna und Simeon, die bis ins hohe Alter Geduld mit Gott hatten. 

Wahrnehmen, was ich suche

Menschen möchten ihre Bedürfnisse stillen: Sie möchten ihre Individualität entfalten, sie suchen Sicherheit, oft eine Beziehung.
Der Glaube an Gott bekommt hier meistens einen funktionalen Charakter: Gott ist der Vater, den wir um Sicherheit, Trost und Geborgenheit bitten. Meister Eckart sagt, dass wir Gott oft melken wollen wie eine Kuh, die Milch gibt.
Doch der Mensch sucht im Grunde mehr als nur seine Bedürfnisse zu stillen. Er sucht nach einem Lebenssinn. Er möchte wissen, wozu er auf Erden ist. Er lebt nicht „vom Brot allein“. Es ist eine geistlicher Prozess, immer wieder herauszufinden, was hier und jetzt meine Aufgabe ist. Gott ist es, der ruft und auf eine Antwort hofft.
Der erwachsene Glaube übernimmt für Gott Verantwortung in dieser Welt. Der Christ ist für Gott in der Welt da, er ist Repräsentant Gottes. Ich bin mir sicher, dass Hanna, von der es heißt, dass sie ständig im Tempel war, für jeden Tempelbesucher ein offenes Ohr hatte und die Menschen bei ihrer Gottsuche begleitete.

Gott kommt mir entgegen

Für Gott hellhörig und hellsichtig zu werden wie Hanna und Simeon, bedarf der Übung, da Gott nicht unmittelbar erfahrbar ist. Er kann jedoch in jeder menschlichen Erfahrung mit-erfahren werden als Hinter-Grund und Tiefe, die berühren kann. Diese metaphysische Ebene in allem nehmen wir in der Regel nicht wahr, wie es der Jesuitenpater Alfred Delp einmal in einem Bild beschrieben hat:

„Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll.
Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen.
Wir aber sind oft blind.
Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen
und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt,
an dem sie aus Gott herausströmen.“

Es ist der Blick des Glaubens, der hinter den Fakten das Geheimnis Gottes ahnt, hinter der Oberfläche eine Tiefe. Es braucht dafür Geduld und Zeit, um sich achtsam den Dingen und Ereignissen zuzuwenden, in denen Gott aufscheint. Das lange Warten hat Hanna und Simeon darin geschult, sensibel zu werden für diese „unterschwellige“ Gegenwart Gottes. So konnte ihnen in dem unscheinbaren Jesuskind das Licht Gottes aufscheinen.

Wir sind Gefundene

Von Simeon heißt es, dass er vom Geist Gottes in den Tempel geführt wurde. Und Augustinus schreibt: „Keiner sucht Gott, ohne nicht schon von ihm gefunden zu sein“. Gott suchen, heißt zunächst einmal, sich dessen bewusstwerden, dass ich schon immer von ihm gefunden bin. Das macht mich empfänglich für eine mögliche Gottesbegegnung. Und ähnlich wie Hanna und Simeon, kann mir plötzlich ein Licht aufgehen, „das Licht aller Völker“. Ich kann so einen begnadeten Lichtblick nicht „machen“ oder gar festhalten, ich kann nur dafür sensibel bleiben und ihn im wahrsten Sinne des Wortes er-warten. Diese Haltung lässt sich in Anlehnung an Sabine Naegeli mit folgenden Gebetsworten ausdrücken:

„Auf dich warten, mein Gott, auch wenn es lange Zeit braucht,
bis die Unruhe sich legt in mir:

Auf dich warten, mein Gott,
auch wenn meine Sinne dich lange nicht wahrnehmen.

Auf dich warten. Annehmen,
dass ich dein Nahesein nicht erzwingen kann.

Mein Gott, ich ahne, dass du kommen wirst,
wenn meine Wünsche nicht mehr wie eine Mauer zwischen dir und mir stehen.

Während ich auf dich warte, mein Gott, werde ich gewahr, dass ich erwartet bin von dir,
dass du mich unablässig lockst, bis ich es wage, mich dir zu lassen.

Da bin ich, mein Gott.
Da bin ich.“

Was ist das Ziel der Gottsuche? Den eigenen Seelenfrieden zu finden wie Simeon? Da wäre die biblische Geschichte verkürzt, denn zu Simeon gehört untrennbar Hanna. Sie kommt ins Tun und verbreitet ihre Gotteserfahrung in Worten und Taten. Das Ziel des Gottsuchens ist der Einsatz für die Welt in Gottes Namen. Glauben heißt in „Rufbereitschaft“ für Gott zu sein, jederzeit wo es mir möglich ist, mit ihm am Reich Gottes zu bauen – beruflich und privat. Wir bleiben Gottsuchende ein Leben lang und er-warten einen begnadeten Lichtblick, bis wir einst gehen und Gott schauen von Angesicht zu Angesicht.

Text: Renate Schulz (Renate Schulz arbeitet in der Abteilung Schulische Bildung im Generalvikariat des Bistums Hildesheim.)
Quellen: Alfred Delp: Gesammelte Schriften, Bd. IV. Frankfurt am Main, 1985,26 und Sabine Naegeli, Die Nacht ist voller Sterne, Herder 1987, 14.

Illustration: Patrick Schoden