säen
„Was wir hier tun, aber es ist wirklich sinnstiftend.“
Manchmal ist Schule wie Feldarbeit: Man sät und gießt und düngt und weiß doch nicht, was aufgeht. Auch in der Friedensschule in Osnabrück ist das so, sagt Schulleiter Christoph Wiebke und zählt jede Menge Saatgut auf: von Zeit über Geduld bis zur Weltoffenheit.
Auf dem Marktplatz ist es an diesem Donnerstagmorgen um halb acht recht leer. „Viele Kinder sind beim Zukunftstag“, sagt Christoph Wiebke. Und später wird er sagen: „Perspektive – das ist etwas, das wir säen wollen.“ Man könnte auch sagen: eine gute Zukunft. Doch zunächst begrüßt Christoph Wiebke die Schülerinnen und Schüler der Friedensschule und macht ein paar Ansagen: Was es Besonderes gibt an diesem Tag – Hundeplätzchen backen zum Beispiel und ein Besuch im Tierheim. Die Kinder machen es sich derweil auf Sofas bequem – wie es überhaupt viele bequeme Sofas gibt in dieser Schule.
Nach zehn Minuten verteilen sich Kinder. Ein Junge fragt noch: „Herr Wiebke, warum ging das heute Morgen so schnell?“ „Weil alle von denen, die sonst hier singen oder tanzen, auf dem Zukunftstag sind. Und weil du mich nicht tanzen sehen willst!“, antwortet er. Der Junge nickt. Dass man seine eigenen Begabungen erkennt, ist ein Ziel der Schule. „Wir wollen Talente säen“, sagt Wiebke später. Morgens zum Schulbeginn vor den Mitschüler*innen zu singen oder zu tanzen gehört dazu. Und schafft außerdem Selbstvertrauen – noch ein wichtiges Saatgut.
Die Friedensschule in Osnabrück ist neu. Erst zwei Jahrgänge hat sie, irgendwann werden es sechs sein, die Klassen fünf bis zehn. Sie ist letztlich eine Frucht der Entscheidung des Landes Niedersachsen, Haupt- und Realschulen zu einer Oberschule zusammenzuführen. Und einer Entscheidung der Stadt Osnabrück, diese Umstellung als Chance zu nutzen, etwas Neues auszuprobieren. Statt die „Hauptschule Innenstadt“ und die ebenfalls innerstädtische „Möser-Realschule“ umzuwandeln, laufen sie aus – und die Friedensschule ist gestartet. Zunächst in Mobilklassen und unter Mitbenutzung der Fachräume der bestehenden Schulen, aber ein Neubau wird kommen.


„Wir haben uns lange informiert und andere Projektschulen besucht“, sagt Christoph Wiebke, der bei den Planungen von Anfang an beteiligt war. Die Max-Brauer-Schule in Hamburg zum Beispiel, oder die Alemannenschule in Wutöschingen kurz vor der Schweizer Grenze. Zur Zeit unterrichten 22 Lehrer*innen an der Friedensschule, sieben kommen von der Hauptschule Innenstadt, zwei von der Möser-Realschule, die übrigen sind anderswo gewechselt. „Man muss sich schon bewusst entscheiden bei uns anzufangen“, sagt Christoph Wiebke, der derzeit noch in Personalunion die Hauptschule Innenstadt leitet. „Es ist schon anders.“ Anders ist vor allem, dass die Jungen und Mädchen sich am Ende der Morgenrunde nicht in ihre Klassen verteilen. „Es gibt keine Klassen“, sagt Wiebke. Stattdessen gehen einige in Räume wie „Ink“, das „Trainingslager Inklusion“, oder „DaZ“ für Kinder, die noch Deutsch lernen müssen. Doch die meisten verziehen sich in die Lernbüros. Jedes Kind hat dort einen festen Arbeitsplatz, altersgemischt, etwa 30 abgetrennte Plätze pro Raum. Eine Lehrperson führt für alle die Aufsicht und hilft bei Fragen weiter.
Eines der Kinder ist Leonard, ein Sechstklässler. „Aber in Deutsch bin ich noch nicht so weit“, sagt er, „da muss ich noch Stoff aus Klasse fünf nachholen.“ Er sagt das sehr selbstverständlich. „Weil bei uns jedes Kind an seinem eigenen Wochenplan arbeitet, vergleichen sich die Kinder viel weniger“, sagt Christoph Wiebke. „Die Ziele sind individuell.“ Auch solche Ziele wollen sie säen, sagt der Schulleiter. „Ziele säen, sie erreichen und neue finden.“ Und: „Wir säen Geduld – mit sich und anderen.“ Dass das gelingt, dabei helfen die Lehrerinnen und Lehrer, die sich hier Lernbegleiter nennen. Je nach Umfang der Stelle sind sie „Coach“ für sechs bis zwölf Kinder. Gleich wird sich Leonard mit seinem Coach auf dem Sofa zusammensetzen: Was hat gut geklappt, was nicht? Wie kommst du mit deinem Materialpaket voran? Brauchst du Unterstützung? Gibt es Fehlzeiten? Gibt es Fehlverhalten? Wie geht es zu Hause? „Wir säen durch diese Gespräche bei den Kindern das Gefühl, dass jemand Zeit hat für sie, dass man zuhört und sich interessiert“, sagt Christoph Wiebke. Manche Kinder haben diese Erfahrung bislang selten gemacht.
Leonard gefällt nicht nur, dass er hier mehr auf dem Ipad als mit Buch, Heft und Stift arbeitet. Ihm gefällt auch seine Möglichkeit zur Selbstbestimmung. „In der Grundschule musste ich immer machen, was gerade dran war“, sagt er. „Hier kann ich machen, was ich gerade will, und ich kann sogar sagen: Ich mache heute nichts.“ Christoph Wiebke lacht im Hintergrund. „Stimmt“, sagt er, „aber nicht ohne Folgen.“ Und er erklärt: „Wir haben hier ein eigenes Graduierungssystem. Die Kinder können sich hocharbeiten, was ihre Rechte angeht. Oder auch runterarbeiten.“ Damit werde Selbstverantwortung gesät, sagt er. Auch so ein wichtiger Punkt.

Ein Lernbüro weiter sitzt Maya mit Kopfhörern an ihrem Arbeitsplatz. Sie macht eine Übung zum englischen Hörverständnis und will sich nicht gerne stören lassen. Zumal lautes Reden im Lernbüro sowieso nicht erlaubt ist, weshalb in der Friedensschule auch eine völlig schuluntypische Ruhe und Konzentration herrscht. „Mit wem sollte man auch reden?“, sagt Wiebke. „Die Arbeitsplätze sind voneinander getrennt und das nächste Kind arbeitet sowieso an einem ganz anderen Thema.“
Immerhin erzählt Maya noch von der Friedenstaube, die sie im Werken gebaut haben. Sägen, hämmern, schreinern – eine ganz neue Erfahrung, die ihr viel Spaß gemacht hat. „Gerade in den Werkstätten am Nachmittag säen wir Talente“, sagt Wiebke. Kunst, Sport und Musik, Handwerk, Technik oder wirtschaftliches Denken, wie beim „Kiosk“. Leonard begeistert sich zum Beispiel gerade für das Mittelalter und für Roboter. „In den Werkstätten kommen die Kinder jahrgangsübergreifend zusammen“, sagt Christoph Wiebke. Dadurch stärken sie einander und haben immer wieder die Chance, neue Freunde zu finden. „Ich habe hier noch nie jemanden erlebt, der niemanden gefunden hat“, sagt Wiebke. Das sei ein Vorteil gegenüber festen Klassen mit ihren festgefügten Rollen.
Säen will die Friedensschule aber auch Spaß und Gemeinschaft, etwa durch Ausflüge und Schulfahrten. „Letztes Jahr waren wir alle zusammen auf Norderney, demnächst fahren wir mir einigen in unsere türkische Partnerstadt Canakkale“, sagt Wiebke. Es habe einige Mühe gemacht, genügend Zuschüsse einzuwerben, „aber durch solche Fahrten säen wir natürlich auch Weltoffenheit und Akzeptanz von Vielfalt“. Zumal nicht alle Kinder aus Familien stammen, die in den Ferien die Welt bereisen. „Wir wollen Perspektiven säen“, sagt Wiebke, „Perspektiven in jeder Beziehung. Und Hoffnung, dass das eigene Leben gut werden kann.“
Es ist also vieles, was die Lehrerinnen und Lehrer der Friedensschule säen wollen. Aber wie ist das mit dem Ernten? Wie geht man damit um, nicht zu wissen, ob die Saat aufgeht? Christoph Wiebke lacht. Er kommt von der Hauptschule Innenstadt, die für ihr schwieriges Klientel bekannt – man kann auch sagen: berüchtigt – ist. „Mir helfen schon die Einzelfälle“, sagt er. „Wenn ein Schüler, der vorzeitig die Schule verlassen, ein paar Jahre später vor mit steht und sagt: Ich hab meine Ausbildung abgeschlossen! Oder wenn ich zufällig ein Mädchen wiedertreffe, das gerade an der Abendschule ihren Abschluss macht.“ Dann, sagt er, „weiß ich, warum ich das mache, das Säen und das Gießen“. Und er ist sicher: „Es ist zwar manchmal anstrengend, was wir hier tun, aber es ist wirklich sinnstiftend.“
Text: Susanne Haverkamp
Fotos: Hermann Pentermann